EU-London: Auf des Messers Schneide

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Das kommende Jahr bringt die spannendsten und folgenreichsten Wahlen der jüngsten britischen Geschichte. Es geht um nichts weniger als um die Zukunft in der EU.

London. Von Weihnachtsfrieden ist in Großbritannien in diesem Jahr keine Spur zu finden. Während sich die Konsumenten angefeuert durch Tage kollektiven Irrsinns wie „Black Friday“ oder „Panic Saturday“ dem Kaufrausch ergeben (am vergangenen Samstag gaben 13 Millionen Briten 1,2 Milliarden Pfund aus – der Preis eines neuen Atom-U-Boots), arbeitet die politische Klasse mindestens ebenso hektisch an den Vorbereitungen für die Parlamentswahl im kommenden Mai. Dazu gibt es allen Grund, denn aller Voraussicht nach wird es die spannendste und folgenreichste Wahl für Generationen sein.

Auf dem Spiel steht nicht weniger als die Zukunft Großbritanniens in der Europäischen Union. Der konservative Premierminister, David Cameron, hat für den Fall einer Alleinregierung seiner Partei eine Volksabstimmung über den Verbleib des Landes in der EU bis Ende 2017 versprochen. In einer Grundsatzrede Ende November stellte er klar, dass er für die Mitgliedschaft „in einer reformierten Union“ ist, drohte aber auch: „Wenn unsere Sorgen und Anliegen auf taube Ohren stoßen, schließe ich nichts aus.“

Nach einer fast zweijährigen Nachdenkpause darüber, was er eigentlich mit Brüssel neu verhandeln will, machte Cameron in derselben Rede das Thema Einwanderung und Zugang zu Sozialleistungen für EU-Bürger zu seinem Kernpunkt. „Unsere Bedenken verdienen es, ernst genommen zu werden“, sagte der Premier fast flehentlich. Die Reaktion aus Europa auf die Erklärung fiel ermutigend aus.

Ein Kniefall vor UKIP

Doch das wahre Problem hat Cameron zu Hause: Hier gräbt ihm die rechtspopulistische United Kingdom Independence Party (UKIP) rasant das Wasser ab, und indem er den versprochenen Verhandlungserfolg gemäß der Vorgaben von UKIP definierte, ging Cameron der Konkurrenz in die Falle: Was immer er aus Brüssel nach Hause bringt, wird nun gemäß der Positionen der Populisten bewertet und – unausweichlich – verworfen werden. Angesichts der Tatsache, dass UKIP bei der Wahl am 7. Mai aber zum Zünglein an der Waage werden könnte, wagt es Cameron nicht, die Europagegner offensiv herauszufordern, sondern kommt ihnen entgegen.

Manche Tories wollen offen eine Zusammenarbeit. Als Signal an rechtsnationale Parteien wurde zuletzt der Gründer der für ihren Alarmismus bekannten Anti-Einwanderungsgruppe MigrationWatch UK, Andrew Green, in den Adelsstand erhoben. Dass eine umfangreiche, von der Regierung in Auftrag gegebene Prüfung der Kompetenzverteilung zwischen London und Brüssel zum Ergebnis kam, dass die EU-Mitgliedschaft gut für die Briten sei, wurde hingegen totgeschwiegen. Unklar ist, ob diese Dog-whistle-Politik (die an dunkle Gefühle appelliert, wie man einem Hund nachpfeift), auch Wirkung zeigt. Nach einer Umfrage im Auftrag des Pariser „Figaro“ vom Wochenende würden die Briten derzeit mit 42 zu 37 Prozent für den EU-Austritt stimmen. Wenige Wochen zuvor hatte eine Ipsos-Mori-Befragung eine Mehrheit von 56 zu 36 für den Verbleib ergeben. Der Wahlforscher John Curtice warnt vor voreiligen Schlüssen: „Die Zahl der Unentschlossenen ist so groß, dass jede Prognose unmöglich ist.“


Das gilt auch für die Parlamentswahl. Mit leichten Vorteilen für die oppositionelle Labour Party liegen die beiden Großparteien praktisch gleichauf. Das ist weniger den Großtaten der Regierung geschuldet, sondern dem Ungeschick von Labour-Chef Ed Miliband, der ein anständiger Intellektueller sein mag, aber an der Frontline eine denkbar unglückliche Figur abgibt.

Labour hadert mit dem Norden

Doch was UKIP für die Konservativen bedeutet, stellt für Labour in ähnlicher Form die Scottish National Party (SNP) dar. Sie hat ihre Niederlage in der Unabhängigkeits-Volksabstimmung im September längst in einen glänzenden politischen Sieg verwandelt und würde derzeit Labour die Hälfte aller Sitze nördlich des Hadrianwalls nehmen – und damit jede Chance auf eine Alleinregierung. Schon wird in Londoner Politikkreisen über einen Pakt zwischen Labour und SNP gemunkelt. Der Preis, den Miliband für eine Duldung zu zahlen hätte, wäre möglicherweise ähnlich tiefgreifend wie Camerons beabsichtigtes EU-Referendum: Die schottischen Nationalisten sprechen bereits von einer neuen Volksabstimmung über ihre Unabhängigkeit.

Ungeachtet des Wahlausgangs deuten daher alle Zeichen darauf hin, dass die Parlamentswahl im Mai eine Schicksalswahl sein wird. Dass das traditionelle politische System an seinem Ende angelangt ist, zeigt ein Beispiel: Bei der Wahl 1951 stimmten 97 Prozent der Wahlberechtigten entweder für Labour oder die Tories. Bei der bisher letzten Wahl 2010 waren es nur mehr 42 Prozent. Der Politologe Ross McKibbin: „In einem Land, in dem es keine echte Idee eines gemeinsamen Interesses mehr gibt, wird das Ergebnis fast wie Zufall aussehen.“ Die Folgen aber werden schwerwiegend sein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.12.2014)

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