EU plant den „digitalen Tsunami“

Kulturmontag mit art.genossen: Hilfe, wir verschwinden - Das digitale Disaster. Sendung am MO, 23.03.2009, 22:30 Uhr, ORF 2.
Kulturmontag mit art.genossen: Hilfe, wir verschwinden - Das digitale Disaster. Sendung am MO, 23.03.2009, 22:30 Uhr, ORF 2.(c) ORF
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Brisantes Papier umreißt Leitlinien für Sicherheits-Politik ab 2010. Ziel: Mehr Überwachung im öffentlichen Raum, im Internet, beim Zahlungs-Verkehr. Bürgerrechtler sind besorgt, sehen aber auch Chancen.

Sicherheit und Grundrechte sind kein Widerspruch.“ So warb der ehemalige EU-Kommissar für Sicherheit und Justiz, Franco Frattini, für ein bis zuletzt geheimes Papier, das die Arbeit von Polizei und Justiz ab dem Jahr 2010 umreißt. Erarbeitet wurde es von der „Informellen hochrangigen beratenden Gruppe zur Zukunft der europäischen Innenpolitik“, auch Zukunftsgruppe genannt. Die Mitglieder der Gruppe – Österreich gehört nicht dazu – schlagen dem Rat der EU vor allem eines vor: mehr, weil grenzüberschreitende Überwachung mithilfe der Computertechnologie. Die Einführung des maschinenlesbaren Reisepasses mit Fingerabdruck ist der erste Schritt.

Auf Seite 64 des 155 Seiten starken Werks ist wörtlich von einem „digitalen Tsunami“ die Rede. Demnächst wird der Text im Ministerrat behandelt. Der Beschluss durch den Europäischen Rat ist für Herbst geplant. An der Kontrollinstanz EU-Parlament geht der Bericht vorbei: In Fragen der inneren Sicherheit hat es (noch) keine Kompetenzen. Die Vorschläge sorgen unter Grundrechtsexperten und Datenschützern schon jetzt für Aufregung. Die Empfehlungen im Detail:
Internet: Das weltweite Datennetz wird nicht nur von unbescholtenen Bürgern ge-, sondern auch von Terroristen missbraucht. „Die Überprüfung des Internets ist daher eine Aufgabe von höchster Bedeutung“, heißt es im Bericht. Was das bedeutet, machten die EU-Innenminister vor wenigen Monaten deutlich. So gibt es Pläne für grenzüberschreitende „Ferndurchsuchungen“ von PCs. Auch die in vielen Ländern umgesetzte Speicherung von Verbindungsdaten (Vorratsdatenspeicherung) gehört dazu.
Online-Zahlungsverkehr: 2006 deckte die „New York Times“ auf, dass die US-Geheimdienste CIA und NSA seit dem Jahr 2001 jährlich 20Millionen vertrauliche Transaktionen des internationalen Online-Zahlungssystems SWIFT ausspioniert hatten. Die Empörung in Europa war groß. Nun empfiehlt die Zukunftsgruppe, dass „eine künftige Maßnahme in der systematischen Überwachung von Finanztransaktionen in der Union bestehen könnte“. Ziel ist einmal mehr die Bekämpfung von Terrorismus und internationaler Kriminalität. Und weiter: „Den (...) Strafverfolgungsbehörden sollten effizientere Rechtsinstrumente in die Hand gegeben werden, die ihnen die Nutzung von Datenbanken wie etwa SWIFT ermöglichen.“
Öffentlicher Raum: Spätestens die Terroranschläge von Madrid und London sowie die „Kofferbomber“ auf deutschen Bahnhöfen traten eine Debatte darüber los, wie denn der öffentliche Raum zu schützen (und zu überwachen) sei. Hierfür empfiehlt die Zukunftsgruppe „spezielle Ermittlungstechniken“, ohne sie konkret zu benennen. An anderer Stelle ist im Expertenbericht von mehr Videoüberwachung und „unbemannten Fluggeräten“ die Rede.
Polizeidatenbanken: Um die polizeiliche Zusammenarbeit zu verbessern, empfiehlt die Gruppe die Zusammenlegung von Datenbanken, die beispielsweise Fingerabdrücke, DNA-Profile, Telefonnummern, Fahrzeug- und Meldedaten sowie ballistische Profile von Schusswaffen enthalten. Ziel ist die automatisierte Datenanalyse über Grenzen hinweg. Alles mit der Absicht, den zuständigen Behörden „nahezu unbegrenzte Mengen potenziell nützlicher Informationen“ zur Verfügung zu stellen.

Kaum Bürgerbeteiligung

Weil das Maßnahmenpaket tief in die Grundrechte der Bürger eingreift, empfiehlt die Zukunftsgruppe der Politik eine „transparente und nachvollziehbare“ Entscheidungsfindung. Dann nämlich, so die Annahme, werden „die Bürger einen Beschluss aus Brüssel akzeptieren und begrüßen“.

Tatsächlich wurde die Sicherheitspolitik der Zukunft bis heute nicht auf Bürgerebene diskutiert. Bis Ende 2008 war der Bericht der Zukunftsgruppe unter Verschluss. Erst die britische Bürgerrechtsorganisation „Statewatch“ berichtete vor dem Jahreswechsel erstmals von seiner Existenz. Die empfohlene Transparenz äußerte sich in einer praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführten Online-Umfrage auf der Homepage der Kommission (818 Teilnehmer). Ebendort durften Bürger allgemeine Fragen wie „Sollte die EU mehr tun, um der terroristischen Bedrohung zu begegnen?“ mit „Ja – Nein – Keine Meinung“ beantworten.

Bürgerrechtler wie der Leiter des Wiener Ludwig Boltzmann-Instituts für Menschenrechte, Hannes Tretter, bewerten das Vorhaben der EU als „hochinteressant“. Einerseits sei es gut und richtig, neue Technologien im Dienst der Sicherheit einzusetzen. Andererseits bedauert er, dass Schutzmechanismen für die betroffenen Bürger nicht mit der gleichen Kreativität ausgearbeitet wurden, wie sie offensichtlich bei der Ausgestaltung der neuen Überwachungsmethoden zum Einsatz kamen. „Was fehlt, ist eine effiziente Kontrollinstanz.“

Als für den Rechtsstaat „höchst bedenklich“ bezeichnet er die Absicht, in Zukunft Nachrichtendienste und Polizei eng miteinander kooperieren zu lassen. „Weil Geheimdienste in der
Regel keine Auskunft über ihre Aktivitäten geben,bedeutet das für die Bürger eine
erhöhte Gefahr.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.03.2009)

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