Tschechien: Kein EU-Vertrag ohne "Beneš-Dekrete"

Premysl Sobotka
Premysl Sobotka(c) EPA (Radim Beznoska)
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Der Reformvertrag dürfe keine Auswirkung auf die Gültigkeit der umstrittenen Erlässe haben, sonst werde Prag nicht zustimmen, erklärt Senats-Präsident Sobotka. Durch manche der Dekrete wurden Deutsche nach 1945 enteignet.

Mitte Februar hat das tschechische Abgeordnetenhaus den EU-Reformvertrag ratifiziert. Dies war allerdings mit einem Begleit-Beschluss zu den "Beneš-Dekreten" verbunden gewesen. Dass es durch den EU-Vertrag auf die "Dekrete" keinerlei Einflussnahme geben dürfe, daran wird auch der Senat festhalten, der über den Vertrag erst abstimmen muss. "Sie sind in einer bestimmten historischen Situation entstanden", erklärte der Senatspräsident Premysl Sobotka am Dienstag gegenüber österreichischen Journalisten, "aber es ist kaum möglich, in die Geschichte zurückzukehren". Viel wichtiger sei es, an die Gegenwart und die Zukunft zu denken.

Stichwort Beneš-Dekrete

Man sollte nicht eine "Tatsache destabilisieren", die vor 60 Jahren entstanden sei, argumentierte der Politiker der Regierungspartei ODS (Demokratische Bürgerpartei), genauso gut könnte man auch die "Zonenaufteilung" nach dem Zweiten Weltkrieg in Frage stellen. "Das würde auch Österreich betreffen, und das will sicher niemand." Sollte außerdem an den "Benes-Dekreten" gerüttelt werden, könnte man auch an gewisse Grenzziehungen nach 1945 zweifeln, bei Polen oder Kroatien beispielsweise. Prinzipiell sollte die Geschichte den Historikern überlassen werden, argumentierte der Senatspräsident, "das was war, wird man kaum mehr ändern." Als Beneš-Dekrete werden 143 Präsidialdekrete bezeichnet, die von der tschechoslowakischen Exilregierung in London, während und in Folge des Zweiten Weltkrieges und der Besetzung des Landes durch das nationalsozialistische Deutsche Reich, in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zur Ernennung der vorläufigen Nationalversammlung am 21. Oktober 1945 erlassen wurden.

Besonders umstritten sind jene acht Dekrete, welche die deutschstämmige Bevölkerung betrafen. Durch sie wurden bis zu 2,9 Millionen Personen auf Grund ihrer Herkunft pauschal zu Staatsfeinden erklärt, enteignet und ausgebürgert. Diese Enteignungen wurden mit den Dekreten (nachträglich) gerechtfertigt, aus deren Wortlaut sich kaum auf eine geplante massenweise und systematische Abschiebung (tschech. odsun) schließen ließ; es gab weder ein ausdrückliches "Vertreibungsdekret" noch ein "Vertreibungsgesetz".

In der Abgeordnetenkammer war das Regelwerk von den oppositionellen Kommunisten und einem Teil der konservativen ODS von Premier Mirek Topolanek abgelehnt worden. Eines der Gegenargumente war, dass der Lissabon-Vertrag die Frage der "Beneš-Dekrete" wieder öffnen könnte. Rund drei Millionen Deutschsprachige, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus der damaligen Tschechoslowakei vertrieben worden waren, könnten Wiedergutmachung und die Rückgabe des einstigen Eigentums fordern, befürchten Kritiker.

Eigentumsrückgaben an Deutsche möglich

Der renommierten Verfassungs-Jurist Vaclav Pavlicek hatte beispielsweise gewarnt, dass es eine bestimmte Gefahr der Eigentumsrückgaben an die vertriebene deutsprachige Bevölkerung gebe. Zwar könne der Lissabon-Vertrag nicht die Benes-Dekrete rückwirkend ändern, allerdings könnte die Verstärkung des Prinzips der Gleichheit der EU-Bürger in dieser Frage Probleme machen.

Ob und wann der EU-Vertrag auch im Senat gebilligt wird, ist eine offene Frage. An sich gilt der April denkbarer Termin, allerdings sieht man sich nicht unter Zeitdruck. Immerhin müsse erst in Irland eine neuerliche Volksabstimmung stattfinden. Senatspräsident Sobotka rechnet für den Fall des Falles aber eher mit einer Mehrheit für die Ratifizierung. Etwas skeptischer sieht es der Vorsitzende des Senatsausschusses für die EU, Ludek Sefzig, ebenfalls von der ODS. "Heute sind ungefähr 50 Prozent dafür." Nötig ist freilich eine Drei-Fünftel-Mehrheit.

(APA/Red.)

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