RBI-Chefanalyst Peter Brezinschek rückt das Bild zurecht, das die Regierung in Athen von der griechischen Lage zeichnet – und zeigt Verhandlungsspielräume auf.
Wien. Es ist ein düsteres Bild, das die neue Syriza-Regierung von der Lage in Griechenland zeichnet: Staat und Wirtschaft haben sich unter dem Diktat der Troika zu Tode gespart. Das Land stöhnt unter dem Joch aufgezwungener Reformen. Und die Last der Schulden ist so erdrückend, dass ein weiterer Erlass der einzige Ausweg ist. Aber stimmt das? Auch die Statistik malt nicht in rosigen Farben. Aber sie räumt mit falschen Zuspitzungen auf – und legt den Finger in ganz andere Wunden. Peter Brezinschek, Chefanalyst der Raiffeisen Bank International (RBI), hat solche Zahlen – vor allem der EU-Kommission – am Mittwoch präsentiert. An Aha-Effekten mangelt es dabei nicht.
Zu viel reformiert? Die Indikatoren der Weltbank zeigen: Korruption ist in Hellas weiterhin allgegenwärtig. Und das Land leidet noch immer unter einer lähmenden Bürokratie, die viele davon abhält, sich als Unternehmer selbstständig zu machen. Schlimmer noch: Die Effektivität der öffentlichen Verwaltung hat sich seit 2008 noch weiter verschlechtert. Ihr Anteil am BIP ist bis 2013 gestiegen, während die – ohnehin schwachbrüstige – griechische Industrie an Bedeutung verloren hat. Die Privatwirtschaft hat mehr Jobs abgebaut als der Staat. Bei den Privatisierungen wird – auch ohne den nun angedrohten Totalstopp – das ursprüngliche Ziel bei Weitem nicht erreicht: Statt 50 Mrd. Euro dürften daraus bis zum Jahr 2020 nur 22Mrd. in die Staatskasse fließen.
Schadet das Sparen? Nach der Syriza-Rechnung steht fest: Das „Spardiktat“ der Troika verstärkt nur die Rezession. Damit sinken die Steuereinnahmen und steigen die Schulden. Dieser Effekt war in den ersten Jahren der Schuldenkrise tatsächlich zu beobachten. Seit 2013 schafft der Haushalt aber wieder einen Primärüberschuss. Nach den RBI-Berechnungen ist die Konsolidierung seit dem Vorjahr kein Hemmschuh mehr für die konjunkturelle Entwicklung, sondern ein Rückenwind. In den Krisenstaaten Portugal und Spanien sollte es erst heuer so weit sein.
Von den Schulden erdrückt? Den – inzwischen abgeschwächten – Ruf Athens nach einem Schuldenschnitt hält Brezinschek für eine „reine Spiegelfechterei“. Denn Griechenland hätte, wenn es sich weiter an die Auflagen des Hilfsprogramms hält, „kein akutes Schuldenproblem“. Die Rückzahlung der Rettungshilfen wurde von den internationalen Kreditgebern schon großzügig gestreckt. Kommt Hellas heuer über die Runden (2015 sind acht Mrd. des IWF und sieben Mrd. der EZB zu tilgen), stehen bis 2020 lauter ruhige Jahre bevor. Die Zinsbelastung ist nicht erdrückend, denn auch sie haben die Kreditgeber stark subventioniert: Mit einem impliziten Zinssatz von nur 2,4 Prozent sind die Kapitalkosten für den Pleitekandidaten sogar niedriger als für Deutschland, das für seine Bonität Bestnoten erhält. Wie die Grafik zeigt, bleibt im Rest der Eurozone das Verhältnis von Risiko und Kosten gewahrt (auch wenn die EZB das Zinsniveau niedrig hält). Nur Griechenland ist der „Ausreißer“.
Alles für die Banken? Oft heißt es, das Über-Wasser-Halten Griechenlands helfe nur den Banken. Da war lange einiges dran. Doch spätestens seit dem ersten Schuldenschnitt, bei dem sie zur Kasse gebeten wurden, haben sich internationale Institute weitgehend zurückgezogen. Nur noch zwölf Prozent der Griechen-Anleihen werden aktuell von privaten Gläubigern gehalten; davon sind mehr als die Hälfte griechische Banken. Hinter dem großen Rest stehen öffentliche Gläubiger – und damit die europäischen Steuerzahler.
Es fehlen nur Steuern der Reichen? In einem Punkt zeigt die neue Regierung in Athen weit mehr Reformeifer als ihre Vorgänger: Sie will der unseligen Steuerimmunität der Geldeliten und großen Grundbesitzer ein Ende bereiten. Allerdings stand eine effizientere Steuereintreibung von Anfang an im Forderungskatalog der Troika, blieb aber eine der vielen unerfüllten Strukturreformen. Die Steuermoral ist freilich nicht nur bei den Reichen miserabel. Im Alltag der Griechen regiert der Schwarzmarkt: Bei konsequenter Eintreibung der Mehrwertsteuer wären die Einnahmen daraus um ein Drittel höher.
Alles hängt nun davon ab, ob die Regierung ernsthaft verhandeln und über ein neues Hilfsprogramm mit neuen Gegenleistungen reden will. Für diesen Fall sieht Brezinschek durchaus Verhandlungsspielraum auf Seite der Gläubiger. Sein Ansatzpunkt wäre vor allem der Primärsaldo. Wenn dieser heuer etwa statt drei nur eineinhalb Prozent beträgt, könnte Premier Tsipras einige kostspielige Wahlversprechen umsetzen – und damit vor seinen Wählern das Gesicht wahren.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.02.2015)