Analyse: Warum Juncker gegenüber Paris Milde walten ließ

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Der EU-Kommissionschef Juncker fasst Paris mit Glacéhandschuhen an – aus großkoalitionärem Reflex und weil die EU Streit mit Frankreich derzeit so dringend braucht wie einen Kropf.

Brüssel. Dass der mittelalterliche Rechtsgrundsatz „Pacta sunt servanda“ mit der europapolitischen Realität nicht immer übereinstimmt, ist keine Novität. Am Mittwoch klafften Ideal und Wirklichkeit wieder einmal besonders weit auseinander – anders als dies de jure hätte passieren müssen, gewährte die EU-Kommission dem seriellen Defizitsünder Frankreich erneut eine Schonfrist für das Stopfen des im Staatshaushalt klaffenden Lochs. Ursprünglich hätte Paris heuer ein Budgetdefizit von maximal drei Prozent des BIPs nach Brüssel rapportieren dürfen – der neue Zieltermin lautet 2017. Doch auch beim neuen Datum handelt es sich um reines Wunschdenken: 2017 finden nämlich in Frankreich Präsidentenwahlen statt – ein denkbar schlechter Zeitpunkt, um Wählern Sparprogramme zuzumuten.

Dass EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Franzosen mit Glacéhandschuhen anfasst, lässt sich einerseits als Bevorzugung der großen EU-Mitglieder auf Kosten der Kleinen interpretieren – und kritisieren. Gerüchten zufolge war Junckers Vize Valdis Dombrovskis, der aus dem reformfreudigen Lettland stammt, für Härte gegenüber Paris, während der französische Währungskommissar, Pierre Moscovici, für Nachsicht plädierte. Man kann allerdings auch von Realitätssinn sprechen: Mit einem angepeilten Budgetdefizit von 4,1 Prozent des BIPs im laufenden Jahr – so Gott und die französischen Sozialisten wollen – müsste Paris das fiskalpolitische Äquivalent einer Notlandung absolvieren, um diese Vorgabe zu erfüllen.

Für Junckers Milde gibt es mindestens vier Gründe. Erstens verfügt der Luxemburger Christdemokrat über ein ausgesprochen großkoalitionäres Temperament und hat Verständnis für die Nöte des Sozialdemokraten Hollande – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass in Frankreich seit zwei Jahrzehnten weder Linke noch Rechte den Staatshaushalt zu balancieren vermögen. Zweitens sieht sich Juncker als Chef einer politischen, mit dem Segen des Europaparlaments ausgestatteten Institution im latenten Widerstreit mit dem Rat, dem Gremium der EU-Mitglieder, in dem das auf solide Haushaltsführung bedachte Deutschland als größtes Mitglied das Sagen hat. Die Milde gegenüber Frankreich soll also auch das (vermeintliche) Primat Brüssels gegenüber Berlin symbolisieren.

Angesichts der Querelen mit Griechenland, des Kriegs in der benachbarten Ukraine und der Turbulenzen im Nahen Osten braucht die EU drittens einen Streit mit Frankreich so dringend wie den sprichwörtlichen Kropf. Juncker spielt auf Zeit – und setzt viertens darauf, dass Hollande den Ernst der Lage erkannt hat und endlich Strukturreformen angeht. Den ersten zaghaften Schritt setzte Paris vergangene Woche mit dem Beschluss des Loi Macron, benannt nach dem Wirtschaftsminister, das unter anderem eine Lockerung der Sonntagsöffnungszeiten, die Liberalisierung des Inlandsbusverkehrs sowie leichteren Zugang zu bis dato geschützten Berufen wie Notaren vorsieht.

Überbordender (Sozial-)Staat

Die am Donnerstag veröffentlichte detaillierte Bewertung der Lage in Frankreich durch die EU-Kommission macht aber deutlich, dass dies nur der Anfang sein kann – demnach ist Frankreichs Wirtschaft nach wie vor nicht wettbewerbsfähig genug: So lagen die durchschnittlichen Stundenlöhne in der Industrie mit rund 34 Euro zuletzt EU-weit auf Platz drei. Stattdessen leistet sich Paris einen überbordenden (Sozial-)Staat, der 57 Prozent der Wirtschaftsleistung beansprucht.

Ob Paris die richtige Richtung einschlägt, wird sich im Lauf der kommenden Monate weisen: Die EU hat Frankreich ersucht, das strukturelle Defizit heuer um 0,5 BIP-Prozent zu reduzieren, und nicht, wie ursprünglich angepeilt, um 0,3 Prozent. Wirtschaftsminister Macron verspricht jedenfalls weitere Reformen. Die Regierung werde im Sommer ein Paket zur Liberalisierung des Arbeitsmarkts beschließen, sagte er gestern zur „Financial Times“ – notfalls gegen den Widerstand der Parlamentarier. Als Nächstes stünde dann eine Pensionsreform auf der Agenda. Eine Auflistung aller beabsichtigten Reformen soll im Mai vorgelegt werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.02.2015)

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