Der EU-Austritt: Wenig Potenzial, aber hohes Risiko

BRITAIN FASHION FOR FLOOD RELIEF
BRITAIN FASHION FOR FLOOD RELIEF(c) EPA
  • Drucken

Schätzungen zufolge könnte der Austritt Großbritanniens BIP um 1,5 Prozent steigern – damit dies eintritt, müsste sich London allerdings aller Mindeststandards entledigen.

Brüssel. Was passiert, sollten sich die Briten für den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union entscheiden? Über diese Frage zerbrechen sich Experten in London, Brüssel und anderswo seit geraumer Zeit die Köpfe. Wer die diversen Studien liest, wird mit einer Vielzahl von divergierenden Schätzungen konfrontiert – was in der Natur der Sache liegt, denn die Folgen eines Brexit hängen unmittelbar mit den Rahmenbedingungen des EU-Austritts zusammen. Und diese sind bekanntlich Verhandlungssache. Nichtsdestoweniger können einige Thesen mit ziemlicher Sicherheit aufgestellt werden. Sollte Großbritannien also für einen Abschied von der EU votieren, hätte diese Entscheidung folgende Konsequenzen:

Ein langwieriges Prozedere


Gemäß Artikel 50 des EU-Vertrags kann Großbritannien den Austritt aus der Union initiieren. Für die Verhandlungen über eine einvernehmliche Scheidung ist ein Zeitraum von zwei Jahren vorgesehen, über das daraus resultierende Abkommen zur Neuregelung der Beziehungen zwischen EU und Großbritannien muss abschließend im Rat und EU-Parlament abgestimmt werden – sofern es keinen Beschluss für eine Verlängerung der Verhandlungszeit gibt. Während dieser Zeit hätte London als Austrittskandidat eingeschränkte Mitsprache in Brüssel.

Da Artikel 50 nur eine Handlungsvorgabe für die europäischen Institutionen, nicht aber für das austrittswillige Land darstellt, könnten die Briten kurzerhand den sofortigen Austritt erklären – was einer Strategie der verbrannten Erde gleichkommen würde, denn London wäre hinsichtlich eines weiteren begünstigten Zugangs zum Binnenmarkt der Union auf den guten Willen der Mitgliedstaaten angewiesen.

Kein Mitgliedsbeitrag...


Die augenscheinlichste Konsequenz eines Austritts wäre der Wegfall der Mitgliedsbeiträge. Gemeinsam mit Deutschland und Frankreich zählt Großbritannien zu den drei größten Nettozahlern der Union. Im Zeitraum 2007 bis 2012 überwies London insgesamt 78,3 Mrd. Euro nach Brüssel und erhielt im Gegenzug EU-Zuschüsse in Höhe von 41,3 Mrd. Euro zurück – der britische Nettobeitrag belief sich also auf 37 Mrd. Euro. Zum Vergleich: Nettozahler Österreich kam im selben Zeitraum auf einen Beitrag von 4,2 Mrd. Euro. Aus der britischen Perspektive problematisch ist in dem Zusammenhang die Tatsache, dass Großbritannien gemessen an seiner Wirtschaftsleistung nur einen geringen Anteil an EU-Geldern erhält: Konkret sind es 0,4 Prozent des BIPs. Nur in Schweden und den Niederlanden sind die Rückflüsse aus dem EU-Budget ähnlich niedrig.

...aber ein Eintrittspreis


Der Brexit würde allerdings nicht das Ende der Überweisungen nach Brüssel bedeuten. Denn um sich den Zugang zum Binnenmarkt der Union zu sichern, müsste Großbritannien einen Eintrittspreis bezahlen – analog zu Ländern wie der Schweiz oder Norwegen. Während die Schweiz ein bilaterales Abkommen mit der EU ausverhandelt hat, ist Norwegen (wie Island und Liechtenstein) Mitglied der europäischen Freihandelszone Efta, die mit der EU über den Europäischen Wirtschaftsraum assoziiert ist. Folge: Die Efta-Mitglieder zahlen für jene EU-Projekte mit, an denen sie teilnehmen. Nach Berechnungen der norwegischen Regierung trägt die Efta im Schnitt 2,4 Prozent der Programmkosten. Auch die Schweizer müssen ins EU-Budget einzahlen. Ob es London schaffen kann, nach dem EU-Austritt ein noch günstigeres bilaterales Abkommen auszuverhandeln, scheint fraglich.

Kein Abschied von der Regulierung...


Die Gegner der britischen EU-Mitgliedschaft begründen ihre Antipathie oft mit der Behauptung, Brüssel drangsaliere Großbritannien mit unnötigen Regeln und Verordnungen. Ein von den regierenden Tories in Auftrag gegebener Expertenbericht hat zwar ergeben, dass die gesetzgeberische Kompetenzverteilung zwischen London und Brüssel grosso modo im Gleichgewicht ist, die Kritik will dennoch nicht verstummen. Würde sich mit dem Brexit allerdings etwas daran ändern? Eher nicht, denn um den Zugang zum Binnenmarkt zu erhalten (schließlich gehen 60 Prozent der britischen Exporte in die EU), müsste London – analog zu Bern und Oslo – den Großteil der EU-Vorschriften beibehalten. Und das beträfe vermutlich auch die bei britischen Europagegnern verhasste Personenfreizügigkeit. Gerade das Schweizer Beispiel ist diesbezüglich lehrreich: Sollte Bern in der Tat Quoten für EU-Ausländer einführen, wofür die Eidgenossen 2014 in einer Volksabstimmung votiert haben, wären damit andere Abkommen mit der EU, die den Marktzugang betreffen, hinfällig.

...möglicherweise aber von der City


Ein Opfer des britischen Unabhängigkeitsstrebens wäre voraussichtlich die Londoner City, das derzeitige Finanzzentrum der EU. Grundsätzlich spräche nichts dagegen, dass die Union den Großteil ihrer Finanzgeschäfte sozusagen offshore abwickelt, doch in der Praxis dürfte es Widerstände geben – einerseits von Paris und Frankfurt, die ihre Finanzplätze stärken wollen, andererseits von der EZB, die mittlerweile auch regulatorische Aufgaben übernimmt – und es vermutlich nicht gern sähe, keine Aufsicht über die City zu haben. Die Briten könnten diese Bedenken zwar entkräften, und zwar indem sie sich dazu verpflichten, auch nach dem Brexit das Regelwerk der Union zu übernehmen. Doch dann würde der Sinn des Austritts – die Reduzierung von Regeln – konterkariert. Hinzu kommt, dass Großbritannien als EU-Outsider kein Mitspracherecht bei deren Gestaltung hätte. Problematisch wäre das nicht zuletzt deshalb, weil der britische Austritt die politische Balance innerhalb der EU zugunsten der (überspitzt formuliert) paternalistischen Protektionisten wie Frankreich verschieben würde. Neue EU-Gesetzesinitiativen wären dann vermutlich weniger liberal.

Zugewinne gering – und illusorisch


Bleibt somit die Frage, was der Austritt Großbritannien bringen soll. Nach Schätzungen des (gemäßigt EU-skeptischen) Thinktanks Open Europe würde der Brexit das britische BIP bestenfalls um 1,55 Prozent erhöhen und im schlimmsten Fall um 2,2 Prozent verringern. Damit sich das optimistische Szenario bewahrheitet, müssten sich die Briten nach dem Austritt aller lästigen Mindeststandards – etwa punkto Arbeitszeit und Umweltschutz – entledigen. Die Krux: Jene Briten, die mit dem EU-Austritt liebäugeln, wünschen sich tendenziell nicht weniger, sondern mehr Schutz vor Konkurrenz aus dem Ausland. Dass sich diese Wähler nach dem Brexit jubilierend dem Wettbewerb mit Asiens Tigerstaaten stellen würden, ist gelinde ausgedrückt fraglich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

FRANCE HISTORY RESISTANCE DE GAULLE SARKOZY
Europa

Zwei Anläufe und viele Rückschläge

Der schwere Weg Großbritanniens in die Gemeinschaft hat einen Namen: Charles de Gaulle.
FILE BRITAIN MARGARET THATCHER
Europa

Sonderregeln, Rabatte und eine lange Hassliebe

Seit dem EG-Beitritt 1973 war es mit Großbritannien nie einfach. Wie andere kämpfte es um seine Interessen, doch es brachte sich auch um Chancen, die EU zu gestalten.
A fan of the royal family wears a union jack hat decorated with badges outside the Lindo Wing of St Mary's hospital in London
Europa

Staatstheorie: Hobbes, Locke und Smith

Ohne englische Philosophen wäre das heutige Europa nicht denkbar.
BRITAIN ECONOMY
Europa

Wirtschaftsbeziehungen mit EU sind unersetzlich

Der Großteil des britischen Außenhandels wird mit der EU abgewickelt – und das würde sich auch nach einem Austritt des Vereinten Königreichs keineswegs fundamental ändern.
Three riders wear jackets with the design of the British Union Jack as the walk to the upper start position of the natural ice run of the Cresta Run at the private St. Moritz Tobogganing Club
Europa

„Little England“ beunruhigt die Partner

Großbritannien hat mit seiner Abwendung von Europa auch an internationaler Bedeutung eingebüßt. Kernelement blieb die Beziehung zu den USA – doch auch sie leidet.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.