Migration: Im Spätherbst der Völker

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Dass Europa mit Einwanderern hadert, hat auch damit zu tun, dass die europäischen Denkmuster überholt sind.

Für einen Kontinent, der in seiner Geschichte stets auf der Suche nach dem großen Narrativ und der Patentlösung für alle gesellschaftspolitischen Übel war, und der dabei den Vorwurf von Pathos und Besserwisserei in Kauf nahm, bietet das Europa des frühen 21. Jahrhunderts ein Bild der Orientierungslosigkeit. Wer wissen will, wie sich Überforderung anfühlt, braucht nur eines der vielen Gipfeltreffen zum Thema Flüchtlings- und Migrationspolitik mitverfolgen. Wie gebannt starren dort die Entscheidungsträger der Union auf Spreadsheets der Grenzschützer und brüten über Karten und Wetterberichten. Soll die EU 20.000 Syrer und Eritreer aufnehmen, oder gar 40.000? Wie viele Menschen sind noch einmal seit Jahresbeginn im Mittelmeer ertrunken? Und was tun mit all den jungen Männern aus Afrika, die keine Aussicht auf den begehrten Flüchtlingsstatus haben, aber trotzdem nach Europa drängen?

Dass die Ratlosigkeit so groß ist, hat zwei Gründe. Erstens das schiere Ausmaß des Problems: Geschätzte 55 Millionen Menschen befinden sich weltweit auf der Flucht, und der Eindruck, Europa sei von wild gewordener Soldateska umzingelt, lässt sich nicht gänzlich von der Hand weisen. Die zweite Ursache liegt hingegen nicht außerhalb, sondern tief in der kollektiven Psyche begraben – konkret hat die Art, wie Europäer (sozialen) Fortschritt begründen, immer weniger mit der Wirklichkeit gemein.

Revolution und Völkerfrühling

Das Narrativ der Entwicklung ist so fest in der europäischen Selbstwahrnehmung verwurzelt, dass es nicht mehr hinterfragt wird. Vereinfacht ausgedrückt lautet es wie folgt: Einst wurden die Europäer von Tyrannen regiert – und zwar so lang, bis die Citoyens auf die Barrikaden stiegen und sich ihre Rechte Schritt für Schritt erkämpften. Diese kollektive Erzählung ist in mehrere Akte aufgeteilt: die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776, die Französische Revolution von 1789, der Völkerfrühling von 1830 und 1848. Sie hat ihre Slogans: „No taxation without representation“, „Liberté, Égalité, Fraternité“, aber auch „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“. Und sie hat ein Happy End: den marktwirtschaftlichen, demokratischen Rechtsstaat. Der deutsche Historiker Heinrich August Winkler spricht in diesem Zusammenhang vom „normativen Projekt des Westens“, das Menschenrechte, Volkssouveranität, Gewaltenteilung und Herrschaft des Rechts umfasst.

Was aber, wenn dieses Narrativ des Fortschritts nicht zur Gegenwart passt? Wenn nicht der Völkerfrühling die richtige Analogie zur heutigen Entwicklung ist, sondern die Völkerwanderung der Spätantike? Das europäische Bürgertum hatte keine andere Wahl, als sich seine Rechte vor Ort zu erkämpfen – die Globalisierung war damals nicht so weit gediehen, dass sich das eigene Vermögen ohne Probleme verflüssigen und ins befreundete Ausland transferieren ließ. In Amerika gab es zwar die Weiten des Wilden Westen, doch diese wurden vor allem von den „poor and huddled masses“ besiedelt, die vor Hungertod (wie die Iren) und Unterdrückung (wie die Juden aus Osteuropa) flohen.

Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert haben die fragilen Mittelschichten in Afrika und Asien heute sehr wohl eine Wahl: Sie können entweder ihr Leben im Kampf für Demokratie und Rechtsstaat riskieren, oder aber versuchen, dorthin zu gelangen, wo es Demokratie und Rechtsstaat schon gibt. Der serbisch-amerikanische Ökonom Branko Milanović, der sich auf die globale Ungleichheit spezialisiert hat, verweist auf die unzähligen Chinesen und Russen, die ihre Vermögen und Familien außer Landes schaffen, anstatt daheim gegen die Autokratie zu kämpfen – das Leben in London oder an der französischen Riviera sei nun einmal angenehmer als die Revolution. Und was für die Neureichen aus dem Osten gilt, gilt auch für jene, die miterleben mussten, wie aus dem Arabischen Frühling der Islamistische Spätherbst wurde. Eigentlich kein Wunder, dass viele von ihnen nun das Weite suchen. Das Problem ist nur, dass der Westen mit dieser veränderten Lage nicht umzugehen weiß. Viele seiner Lösungsansätze funktionieren nicht mehr: Vom „Wandel durch Handel“ kann keine Rede sein, wenn anderswo das Motto „Take the money and run“ gilt.

Barmherzigkeit und Vernunft

Den wohl einzigen Ausweg bietet die Rückbesinnung auf zwei uralte abendländische Kardinaltugenden: Misericordia und Ratio. Gegenüber den Menschen, die vor Krieg und Gewalt aus ihrer Heimat flüchten mussten, muss Europa barmherzig sein – und nicht so engherzig wie bisher. Und was die allerorten gefürchtete Wirtschaftszuwanderung anbelangt: Es wäre höchst an der Zeit, sich über einen geregelten Zugang für jene Einwanderer Gedanken zu machen, die bereit sind, den europäischen Wohlstand zu sichern und zu mehren. Was aber mit Sicherheit keinen Sinn mehr hat, ist darauf zu hoffen, dass sich das Problem auf sozial(r)evolutionäre Weise von selbst erledigt. Das 19. Jahrhundert ist längst vorbei.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.05.2015)

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