Rom kämpft gegen Flüchtlingsflut und rechte Parolen

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ITALY GOVERNMENT(c) APA/EPA/MAURIZIO BRAMBATTI (MAURIZIO BRAMBATTI)
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Die Regierung Renzi wird des steigenden Flüchtlingsandrangs nicht Herr. Der Plan, die Menschen auf das Land zu verteilen, trifft auf Widerstand. Kritiker des Premiers prophezeien seinen Untergang.

Rom. Ob er Muhammad heißt oder sich nur so nennt, tut nichts zur Sache. Der 37-jährige Sudanese verkauft Obst und Grünzeug auf einem römischen Wochenmarkt – für Händler aus Bangladesch, die den Stand im Auftrag von Italienern betreiben. Vor zwölf Jahren ist er mit dem Boot übers Mittelmeer gekommen. Italienisch spricht er schlecht, europäische Schriftzeichen entziffert er gar nicht; mit seiner Verlobten im Sudan, die ihm seine in England gestrandete Schwester vermittelt hat, chattet er per WhatsApp auf Arabisch.

Sonst ist Muhammad ein sehr fröhlicher Mensch. Nur zuletzt war er ziemlich verzweifelt: Zwei aus dem Meer gefischte Sudanesen haben sich – ohne Vorwarnung und als selbst ernannte „Freunde“ – bei Muhammad einquartiert. „Sie liegen mir auf der Tasche. Sie müssen weg! Was bitte kostet eine Bahnfahrkarte nach Deutschland?“ Man nennt einen Preis, Muhammad schlägt die Augen nieder. Und fast weint er, als er hört – es ist die Zeit der Elmau-Sperre um den G7-Gipfel herum –, dass für Flüchtlinge derzeit kein Weg über die Alpen führt: „Wie lange, amico mio, soll das noch dauern?“

(c) Die Presse

Mehr als 57.000 Menschen sind dieses Jahr bereits in Italien angekommen, eine Steigerung um sieben Prozent gegenüber dem bisherigen Rekordjahr 2014. Die staatlichen Auffanglager sind überfüllt; in Rom campierten einige hundert Eritreer tagelang unter freiem Himmel, bis die Polizei sie in eine eilends errichtete Zeltstadt verfrachtete. Im Mailänder Hauptbahnhof wiederum wussten sich die Verantwortlichen nur mehr dadurch zu helfen, dass sie leere Ladenlokale „vorübergehend“ in Schlafquartiere verwandelten, schicke Glaskästen mitten in der Einkaufspassage.

Dabei ist das Problem weniger verwaltungstechnischer als politischer Natur. Hochgekocht ist es zu den Regionalwahlen Ende Mai, dann angesichts des Elmau-Staus, der die Abflüsse der Flüchtlinge wochenlang gehemmt hat, während der Zustrom ungebremst weiterging. Und dann plante das Innenministerium, die Flüchtlingslast nicht länger nur den südlichen Ankunftsregionen aufzuladen, sondern die derzeit zwischen 70.000 und 90.000 Menschen gleichmäßig auf das Land zu verteilen.

Dem verweigerte sich der Norden radikal. „Wir haben schon jetzt einen überdurchschnittlich hohen Ausländeranteil“, schrieb der Gouverneur der Lombardei, Roberto Maroni. „Wir können keine weiteren aufnehmen.“ Während die Präfekten – also die Statthalter der Zentralregierung – möglichst viele Quartiere auftreiben mussten, drohte Maroni allen Bürgermeistern, er werde ihnen staatliche Gelder streichen, sollten sie Flüchtlinge aufnehmen. Das erzeugte den beabsichtigten Wirbel, war aber Schwindel: Ein Landesfürst hat in Italien kaum eigene Mittel zu vergeben. Wenn Geld kommt, dann aus Rom; die Region leitet es nur weiter.

Populäre Schlachtrufe

Maroni gehört der rechtsextremen Lega Nord an, die mit ausländerfeindlichen Schlachtrufen Wählerstimmen gewinnt. Ihre Parole von der „Invasion“ hat nicht nur Silvio Berlusconi aufgenommen; auch der sozialdemokratische Bürgermeisterkandidat in Venedig und selbst die traditionell links regierte Region Emilia-Romagna sperren sich gegen die „Zumutungen“ aus Rom, also die stärkere Einbeziehung des Nordens.

Dem linken Kandidaten in Venedig nahmen die Wähler den Schwenk nicht ab; Felice Casson unterlag bei der Stichwahl am vergangenen Sonntag, womit die Lagunenstadt zum ersten Mal seit zwanzig Jahren wieder ans Mitte-rechts-Lager fiel. So manche italienische Zeitung deutete das symbolisch als Beginn des Untergangs der Regierung von Matteo Renzi.

Wobei es zur komplizierten italienischen Wahrheit auch gehört, dass viele Bürgermeister – selbst solche von der Lega Nord – ganz froh sind über die Zuweisung von Flüchtlingen: Diese füllen so manches ansonsten gescheiterte Hotel, sorgen – mit 35 Euro Staatszuschuss pro Kopf und Tag – für Kaufkraft und ein paar Jobs und ermöglichen es den Gemeinden nebenher, ihre Grünanlagen zu pflegen.

Regierungschef Matteo Renzi wiederum schiebt im Einklang mit allen anderen italienischen Politikern einen großen Teil der Verantwortung der hartherzigen EU und deren Mitgliedstaaten zu. Gleichzeitig unterscheidet die Regierung auf einmal zwischen Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten. Die einen – vorzugsweise Syrer und Eritreer – sollen schneller Asyl bekommen, die anderen noch schneller und erstmals in nennenswerter Zahl nach Hause zurückgeflogen werden. Der jüngsten Umfrage zufolge halten 73 Prozent der Italiener die Einwanderung für ein „Problem“ und 66 Prozent finden, die Regierung gehe mit diesem Problem „schlecht“ um. Bei den Regionalwahlen hat Renzi seine Quittung bekommen, weitere will er sich ersparen.

Wo sind Muhammads Landsleute? „Schon drin“, strahlt er drei Tage später: „Zuerst in Paris, jetzt in Deutschland.“ Aber wie haben sie das trotz Elmau-Sperre und französischer Grenzblockade geschafft? „Weiß ich doch nicht“, sagt Muhammad und hebt die rechte Hand: „Komm, amico mio, schlag ein.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.06.2015)

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