Griechisches Spiel mit dem Feuer

A man reads a newspaper front page bearing a picture of Greek PM Tsipras in Athens
A man reads a newspaper front page bearing a picture of Greek PM Tsipras in AthensREUTERS
  • Drucken

Die Menschen in Griechenland hoffen, dass die Schuldenkrise in letzter Minute entschärft werden kann. Trotzdem bereiten sich viel darauf vor, dass die Verhandlungen scheitern können. Ein Stimmungsbild aus dem Krisenland.

Seit Freitag ist Donald Tusk ein berühmter Mann in Griechenland: Das Hasardspiel und die gegenseitigen Schuldzuweisungen der Verhandlungspartner müssten ein Ende haben, sagte der polnische Politiker und Präsident des Europäischen Rates mit Blick auf die vergangenen vier Monate in der griechischen Schuldenkrise. Und: Das Mittelmeerland stehe vor einem Zahlungsausfall, wenn es die Vorschläge beim Sondergipfel am Montag nicht akzeptiere.

In Athen war man überrascht, auf politischer Ebene empört, wegen der brutalen Geradlinigkeit der Aussage. Doch viele Griechen zogen, unabhängig von den Kommentaren aus Brüssel, ähnliche Schlüsse. Sie eilten zu den Banken und hoben ihr Geld ab, auch die Notgroschen auf den Sparbüchern. Um gerüstet zu sein und Bargeld in der Tasche zu haben, falls Überweisungen künftig überwacht und Geldautomaten auf begrenzte Beträge umgestellt werden sollten. Kapitalverkehrskontrollen hieße das dann. Die Unsicherheit ist groß, die Zukunft eine Unbekannte für viele Menschen in Griechenland.

Eine aber weiß, was zu tun ist: Griechenlands Parlamentspräsidentin, Zoi Konstantopoulou. Sie erklärte diese Woche, dass die griechischen Schulden „illegal“ seien und forderte ein Zahlungsmoratorium. Die prominente Politikerin des regierenden Radikalen Linksbündnisses (Syriza) hatte, mit dem Sanktus von Ministerpräsident Alexis Tsipras, Anfang April eine Kommission mit dem viel sagenden Titel „Staatsschulden-Wahrheitskommission“ gegründet, die die Rechtmäßigkeit der griechischen Staatsschulden von 312,7 Milliarden Euro (Ende März 2015) untersuchte.

Ihre „Wahrheit“ ist nicht bloß, dass die Hilfsprogramme von EU und Internationalem Währungsfonds (IWF) gegen die Menschenrechte und gegen die griechische Verfassung verstoßen, sondern dass sogar die Staatsschulden bis 2009, also vor Ausbruch der griechischen Krise, illegal seien, weil sie überhöhten Zinsen zuzuschreiben seien.

Stolz überreichte sie am Freitag dem Vizepräsidenten von Bolivien, Alvaro Garcia Linera, die vorläufigen Ergebnisse der Kommission. Linera war einer der Architekten der Verstaatlichung der Erdgasindustrie in Bolivien, sein Präsident Evo Morales einer der prominentesten Vertreter des lateinamerikanischen Linkspopulismus, den sich nicht wenige Syriza-Kader zum Vorbild erkoren haben.

Syriza freilich war nie eine Massenpartei. Selbst bei ihrer großen Wahlkampfveranstaltung vor den Parlamentswahlen vom 25. Jänner 2015 mussten die TV-Techniker sehr gewagte Kamerafahrten wählen, um die Besucher in ein „Menschenmeer“ zu verwandeln. Vielleicht war man deshalb so irritiert, als sich diese Woche eine Pro-Europa-Demonstration mit tausenden Teilnehmern formierte und aus dem Stegreif in der Lage war, den zentralen Syntagma-Platz vor dem Parlament zu füllen – völlig unverhofft für die Regierung, die sich daran gewöhnt hat, dass das „Volk“ auf ihrer Seite steht.

Mit der Verwertung unzufrieden. Die streitbare Konstantopoulou, Tochter eines ehemaligen Parteichefs des „Synaspismos“, der Vorläuferpartei von Syriza, ist dieser Tage unzufrieden mit der medialen Verwertung der vorläufigen Ergebnisse ihrer „Wahrheitskommission“ – ein Name, der in Brüssel Vertretern osteuropäischer Staaten in Erinnerung an die jüngste kommunistische Vergangenheit die Haare zu bergen stehen lässt. Journalisten, die sich „Griechen“ nennen wollen, müssten die vorläufigen Ergebnisse der Kommission nach Europa tragen, richtete sie Medienvertretern aus. Und es sei ihre patriotische Pflicht, bei Pressekonferenzen entsprechende Fragen zu stellen. Kritiker merkten dagegen an, die Partei könne nur froh sein, dass die Eskapaden ihrer Parlamentspräsidentin, die in allen Kabarettsendungen des griechischen Fernsehens zur Lachnummer geworden ist, in Europa keine allzu große Verbreitung fänden. Das Klima könnte ansonsten noch frostiger werden, als es ohnehin schon ist.

Doch wie Tusk am Freitag sagte: Die Verhandlungen sind kein Spiel, die Handlungen der Politiker haben konkrete Auswirkungen auf die griechische Bevölkerung. So kann es nicht gleichgültig lassen, wenn Panagiotis Lafazanis, Minister für den „produktiven Wiederaufbau“, von staatlich kontrollierten Joint Ventures nach bolivianischem Muster träumt. Oder 49 Syriza-Abgeordnete eine Diskussion der Ergebnisse der Wahrheitskommission im Parlamentsplenum fordern.

Nicht nur ein Spiel. Denn sie sind es, die möglicherweise noch diese Woche dazu aufgerufen sind, einem Kompromiss ihres Ministerpräsidenten und Genossen Alexis Tspiras mit den internationalen Gläubigern zuzustimmen, in dem sicherlich auch von der Begleichung der Staatsschulden und von umfassenden Privatisierungen die Rede sein wird. Für manche ist das vielleicht nur ein Spiel – in Wahrheit aber ein Spiel mit dem Feuer.

In den Umfragen zeigt sich, dass die Verhandlungstaktik der Regierung immer weniger Anklang findet. Jüngst waren bereits über 41 Prozent der Befragten der Meinung, dass falsch verhandelt werde. Das ändert jedoch nichts daran, dass Syriza nach derselben Umfrage eventuelle Parlamentswahlen gewinnen würde, wenn auch nur mit einer Mehrheit von 36 Prozent.

Während die Parlamentspräsidentin vom großen Zahlungsausfall träumt, haben ihn viele ihrer Wähler – und auch viele andere – längst realisiert. Die Griechen schulden dem heimischen Fiskus und den diversen Sozialversicherungen insgesamt etwa 76 Milliarden Euro, über 40 Prozent der Wirtschaftsleistung. Der Löwenanteil, mit 65 Milliarden, fällt auf Steuerschulden. Elf Milliarden aber entfallen auf Sozialversicherungsbeiträge: Hunderttausende Firmen und unzählige natürliche Personen haben ihre Beiträge nicht bezahlt – und damit keinen Anspruch auf Sozialleistungen oder Pensionen.

Nicht, dass die Zahlungsmoral der Versicherten in guten Zeiten hoch gewesen wäre. Schon 2001 zahlten etwa 15 Prozent ihre Beiträge nicht. Doch die Krise ließ die Rate völlig unkontrolliert in die Höhe schnellen: 2012 konnten 30 Prozent ihre Beiträge nicht mehr bezahlen. In Österreich, zum Vergleich, liegt die Rate der Schuldner bei 1,5 Prozent.

Das ist der Grund, warum die Pensionen zur Gretchenfrage der Verhandlungen geworden sind. Der Staat hat nach den Angaben des griechischen Instituts für Arbeit in den letzten Jahren um die 15 Milliarden Euro bei ihnen eingespart. Doch angesichts der horrenden Arbeitslosenzahlen und der geschuldeten Beitragszahlungen muss der Staat laufend zuschießen.

Das wiederum ruft die Gläubiger auf den Plan, die weitere Einsparungen fordern – ein Teufelskreis. Was jedoch nicht bedeutet, dass es keine Lücken im System gibt. Bei der Pensionsreform des ersten Sparpakets galten Maßnahmen wie etwa die Erhöhung des Pensionsalters auf 67 Jahre nicht für diejenigen, die bereits vor 1993 auf dem Arbeitsmarkt waren; ergänzt um großzügige Möglichkeiten, Versicherungszeiten nachzukaufen, tat sich damit eine „Lücke“ im System für lukrative Frühpensionen auf, die ausgiebig genützt wird. Diese Lücke wird wohl in den nächsten Tagen geschlossen werden.

Noch schlechter ist die Zahlungsmoral der Griechen bei Bankkrediten. An die 40 Prozent aller Kredite, um die 80 Milliarden Euro, werden nicht mehr bedient. Das ist nach Feststellung des Internationalen Währungsfonds (IWF) „Weltrekord“. Im Bericht zum sogenannten „Stresstest“ der Europäischen Zentralbanken im Herbst 2014 zur Belastbarkeit des europäischen Bankensystems sind die Zahlen nachzulesen. Damals erhielten die griechischen Banken von den Prüfern einen Persilschein ausgestellt. Doch schon damals wurde angemerkt, dass eine politische Krise mit einer daraus folgenden lange andauernden wirtschaftlichen Instabilität und Unsicherheit, verbunden mit dem Abfluss der Guthaben, die Szenarien und Prognosen über Bord werfen könnte. Der IWF wollte die Zahlungsmoral durch die Möglichkeit von Pfändung und Versteigerung von Erstwohnsitzen anheben. Dagegen sperrten sich jedoch bisher sämtliche griechischen Regierungen. Sie standen auf dem Standpunkt, dass die Schuldner zahlen wollen, aber nicht können, und bestanden auf das Grundrecht der Menschen, ein Dach über dem Kopf zu haben.

Am Kern rühren. Ob die Griechen nicht zahlen wollen oder nicht zahlen können, fragte sich wohl auch Österreichs Kanzler Werner Faymann, als er bei seinem Staatsbesuch vergangene Woche Sozialeinrichtungen, das staatliche Großkrankenhaus Evangelismosund Vertreter des Gewerkschaftsbundes besuchte. Ein viel zu kurzer Trip, um sich ein Bild von der Lage zu machen.

Und doch rührte er schon bei der ersten Station, in einem der Sozialzentren der SOS-Kinderdörfer im Zentrum von Athen, am Kern des Problems. Faymann fragte einen Mann, der seine Kinder umsonst in der Tageskinderstätte unterbrachte, was sein größtes Problem sei. Die Antwort: „Ich bin leider arbeitslos, und in meinem Alter finde ich keine Arbeit mehr. Da ich Langzeitarbeitsloser bin, bin ich nicht mehr sozialversichert. Ich habe jedoch aus besseren Tagen ein Eigenheim. Die neue Immobiliensteuer kann ich nun nicht mehr bezahlen.“

Der Fall ist typisch für eine ganze Generation. Der Anteil von Eigenheimen liegt weit höher als in Österreich, etwa bei 80 Prozent, arbeitslos sind etwa 26,4 Prozent der Bevölkerung. Der Mann kann von Glück sagen, wenn er keinen Wohnungskredit laufen hat – dann wäre auch seine Wohnung in Gefahr, die Familie würde auf der Straße stehen.

Ans Eingemachte geht es für Beobachter vor allem in der Notaufnahme der Krankenhäuser, aber auch an den Kassenschaltern des staatlichen Stromdienstleisters, DEI. Die Hälfte der Menschenmenge, die in den trostlosen Gängen kreischend und mit ausgefahrenen Ellbogen um einen Platz am Aufnahmeschalter kämpfen, ist nicht versichert. In den staatlichen Krankenhäusern können sie sich nach einer einfachen Registrierung untersuchen lassen, ohne dass man nach ihrer Sozialversicherungsnummer fragt. Doch man muss ganze Nächte in gereizten Menschenschlangen in Kauf nehmen.

Ähnliche Erlebnisse kann man auch bei der Bezahlung seiner Stromrechnung haben. Wer die Frist versäumt, muss persönlich bei den DEI-Kassen seinen Beitrag bezahlen. In diesem Fall ist man mit einer Menschenmenge von säumigen Zahlern konfrontiert, die einem rasch klarmacht, dass es kein Scherz ist, wenn die Rede davon ist, dass sich die Menschen ihren Strom nicht mehr leisten können.

Nicht, dass ganz Griechenland zum Armenhaus geworden wäre, wie es den Anschein hat, wenn Syriza-Politiker von der humanitären Krise sprechen. Doch sie haben nicht unrecht, wenn sie vom notwendigen Schutz der Ärmsten sprechen, von denen, die nicht mehr mitkommen. Das ist inzwischen etwa ein Viertel der Bevölkerung.

Zahlen

1,5Milliarden Euro Kreditschulden muss Griechenland bis Ende des Monats beim Internationalen Währungsfonds (IWF) begleichen.

312,7Milliarden Euro betragen die griechischen Staatsschulden. Parlamentspräsidentin Konstantopoulou nennt sie „illegal“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.