EU-Erweiterung. Dass die Länder Mittel- und Osteuropas nach 1989 nicht in den Autoritarismus abrutschten, hat Europa vor allem deren Perspektive auf den EU-Beitritt zu verdanken. Er war die Alternative, die Brüssel den ehemaligen Satelliten der Sowjetunion anbieten konnte.
Brüssel. Mittlerweile erscheint es undenkbar, doch noch Ende der 1990er-Jahre war nicht klar, welche Zukunft die Slowakei haben würde. Unter Premierminister Vladimír Mečiar hatte der Nachbar Österreichs nach seiner friedlichen Trennung von Tschechien einen zunehmend autoritären Kurs eingeschlagen – und sich zunehmend von der EU und den USA entfremdet, sodass die slowakische Mitgliedschaft in der EU und Nato keineswegs sicher war.
Während westliche Medien Mečiar unter Autokraten wie Alexander Lukaschenko oder Slobodan Milošević reihten, versuchte der Regierungschef, alle Schaltstellen der Macht mit seinen Getreuen zu besetzen. Dass Mečiar schlussendlich weichen musste, hat die Slowakei in erster Linie ihren Wählern zu verdanken – in zweiter Linie allerdings auch der Beitrittsperspektive zur EU, mit der die Einhaltung von Standards einherging, die sich nicht mit autokratischer Machtausübung vereinbaren ließen.
Geister der Vergangenheit
Zu Recht wird der Union vorgeworfen, sie habe in den 1990er-Jahren am Balkan versagt, als Jugoslawien zerfiel. Vergessen wird in diesem Kontext allerdings, dass sich ähnliche Wirren auch in Zentral- und Osteuropa hätten ereignen können. Da die neuen Demokratien aber nach Europa drängten – und von Europa eine EU-Beitrittsperspektive erhielten –, war die Bereitschaft der osteuropäischen Gesellschaften, die Geister der Vergangenheit zu exorzieren, deutlich höher als beispielsweise in Weißrussland und der Ukraine, wo es eine realistische Aussicht auf den Beitritt zur Europäischen Union zu keinem Zeitpunkt gegeben hatte.
Während die Nato-Mitgliedschaft die Osteuropäer in die westlichen Sicherheitsstrukturen einband, vollzog sich die ähnliche Entwicklung auf wirtschaftspolitischer Ebene durch die Übernahme der EU-Rechtsnormen – und durch die Aussicht auf EU-Strukturförderungen, deren Ausschüttung allerdings an prozedurale und rechtliche Standards geknüpft ist. Dadurch wurden etwa in Polen die Bauern – eine äußerst strukturkonservative Bevölkerungsschicht – nach anfänglicher Skepsis (die von Populisten ausgenutzt wurde) zu großen Fans der EU. Die friedliche Überwindung der nach 1945 entstandenen Grenze zwischen West und Ost zählt somit zu einer Glanzleistung der EU – und sie erscheint umso bedeutsamer, je tiefer die Ukraine in einen Konflikt mit Russland hineingerät und je länger sich in Minsk Lukaschenko an die Macht klammert.
Kollektives Versagen
Die Erfahrung mit der Ukraine macht allerdings deutlich, dass die Beitrittsperspektive nur dann wirkungsvoll sein kann, wenn sie ehrlich gemeint ist. Dass die politischen Akteure in Kiew in den letzten zwei Jahrzehnten kollektiv versagt haben und die ukrainische Bevölkerung nun den Preis dafür zahlen muss, ist ebenso unbestritten wie die Tatsache, dass die Ukraine aufgrund ihrer Vergangenheit für die EU deutlich schwerer verdaulich wäre als etwa Polen oder Rumänien. Nichtsdestoweniger fehlte der Anreiz von außen – der durchaus vorhandene Druck der Wähler (man denke etwa an die Orange Revolution von 2004) konnte nicht effektiv in pro-europäische Bahnen gelenkt werden.
Was die Südostflanke der Union – die Türkei – anbelangt, steht das Urteil noch aus. Das Land ist zwar Nato-Mitglied und offizieller EU-Beitrittskandidat, doch die Verhandlungen kommen seit Jahren nicht vom Fleck. Was einerseits an den handelnden Personen in Ankara liegt, andererseits aber auch daran, dass die Bereitschaft vieler EU-Mitglieder, die Türkei tatsächlich aufzunehmen, enden wollend ist.
Seit die islamistische Regierungspartei von Recep Tayyip Erdoğan auf der Klaviatur nationalistischer Gefühle spielt, ist auch die Europa-Begeisterung der türkischen Bevölkerung abgeklungen – was nicht von langer Dauer sein muss, denn das slowakische Beispiel lehrt, dass Stimmungen schnell kippen können.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2015)