Michael Roth: "Das ist unsere Bewährungsprobe"

Der deutsche Europa-Staatsminister Michael Roth über den Mangel an Solidarität in der Euro- und Flüchtlingskrise und über die besondere Verantwortung Deutschlands.

Die Presse: In der Schuldenkrise ist der Eindruck entstanden, dass die EU-Mitgliedstaaten allzu ungleich sind, sodass eine gemeinsame Währung zum Problem wird. Ist dieser Eindruck richtig?

Michael Roth: Nicht der Euro ist das Problem. Wir haben zwar eine gemeinsame Währung, aber keine verbindliche Koordinierung der Fiskal-, Wirtschafts-, Sozial- und Beschäftigungspolitik. Deshalb stehen wir jetzt in der Pflicht, weiter voranzutreiben, was im Maastrichter Vertrag in den Neunzigerjahren bereits angedacht war. Wir haben in Europa viele wirtschaftliche- und soziale Ungleichgewichte. Diese haben sich in den zurückliegenden Jahren durch die Finanz- und Wirtschaftskrise verschärft. Insoweit ist die Krise auch eine Chance, Reformen auf den Weg zu bringen.

Heißt das etwa, dass es auch bei der Leistungsbilanz der Euroländer eine Angleichung geben muss? Das wäre wohl kaum im Interesse Deutschlands.

Eine ideologische Debatte bringt uns nicht weiter. Deutschland hat außerdem seinen Beitrag geleistet. Zu Recht ist uns der Vorwurf gemacht worden, dass wir einen massiv ausgeweiteten Niedriglohnsektor haben. Durch die flächendeckende Einführung eines Mindestlohns, höhere Tarifabschlüsse, haben wir die Lage aber verbessert. Deutschland ist ein exportorientiertes Land, unsere Überschüsse in die Eurozonenländer nehmen dabei ab. Das Hauptproblem ist, dass die Schere zwischen Arm und Reich in Europa insgesamt immer weiter auseinanderklafft. Hier müssen wir uns noch mehr anstrengen.

Es wird in der Euro- wie in der Flüchtlingskrise Solidarität eingefordert. Aber ist diese innerhalb der EU mit sehr national orientierten Ländern wie Großbritannien oder Ungarn überhaupt umsetzbar?

Das Problem ist, dass jeder unter Solidarität etwas anderes versteht. Für unsere Freunde in den baltischen Ländern oder Polen bedeutet Solidarität, dass wir mehr für ihre Sicherheit tun. Für andere wiederum bedeutet Solidarität ein stärkerer Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit. Und wiederum für andere bedeutet Solidarität, dass wir sie mit den Flüchtlingen nicht alleinlassen. Was fehlt, ist ein gemeinsames Verständnis: In all diesen Fragen geht es um ein Nehmen und ein Geben. Solidarität darf nicht als Durchsetzung nationaler Interessen mithilfe der anderen verstanden werden. Solidarität heißt vielmehr, bereit zu sein, sich in die Lage des jeweils anderen Partners hineinzuversetzen.

Das ist aber genau der Vorwurf gegen Länder wie Großbritannien und Ungarn aktuell in der Flüchtlingskrise.

Das Problem sehe ich bei uns allen. Wir erleben derzeit vielerorts Renationalisierungsdebatten. Überzeugend ist dieses Konzept nicht, denn wir brauchen auf die allermeisten Fragen europäische Antworten. Der Nationalstaat alter Prägung vermag kaum zukunftsweisende Lösungen anzubieten. Es bleibt uns nichts anders übrig, als es in Europa gemeinsam versuchen.

Sie sprechen von mehr Integration. Könnten die Krisen aber letztlich nicht genau zum Gegenteil führen: zur Reduzierung der gemeinsamen europäischen Politik – etwa bei der Freizügigkeit von Arbeitnehmern?

Bisher hat die Europäische Union immer aus Krisen gelernt und ist gestärkt aus ihnen hervorgegangen. Ich kann nur hoffen, dass dies auch diesmal der Fall ist. Wir haben bereits einiges auf den Weg gebracht – zum Beispiel die Bankenunion und den Euro-Rettungsschirm. Wir sehen auch Anzeichen wirtschaftlicher Erholung. Aber das reicht auf Dauer noch nicht. Ich sehe die Gefahr, dass wir innerhalb der Union erstmals auch Rückschritte machen. Das ist in einer globalisierten Welt gefährlich, in der die EU im knallharten Wettbewerb mit anderen Regionen steht.

Sehen Sie in dieser Frage eine größere Verantwortung für Deutschland?

Selbstverständlich. Deutschland hat wie kein zweites Land von der europäischen Einigung profitiert. Als größtes Mitglied stehen wir auch in der Pflicht, die EU als Ganzes zu stärken.

In der aktuellen Flüchtlingskrise ist es in der EU offenkundig nicht einmal möglich, rasch zu einem Sondergipfel zusammenzukommen. Warum dieses Zögern?

Problematisch ist eher, dass es einige Mitgliedstaaten gibt, die sich einer solidarischen Lösung schlicht verweigern. Auch auf die Flüchtlingsfrage kann es nur eine europäische Antwort geben, das ist eine gemeinsame Bewährungsprobe. Aus dieser Verantwortung darf sich niemand entziehen. Die EU ist nicht nur etwas für Schönwetterperioden.

Müsste die EU strukturell umgebaut werden, um krisenfest zu werden?

Die EU ist immer in Bau, sie wird nie fertig sein. Aktuell müssen wir uns in der Asylpolitik auf gemeinsame Regeln festlegen. Und wir müssen die Regeln, die es bereits gibt – wie etwa die humanitären Standards –, auch konsequent umsetzen.

ZUR PERSON

Michael Roth. Der SPD-Politiker ist seit 2013 Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland. Der Politologe trat bereits als Schüler den Sozialdemokraten bei. 1998 zog er als direkt gewählter Abgeordneter in den Bundestag ein. Er engagierte sich bereits im Parlament für Europafragen. Zwischen 2010 und 2013 war Roth europapolitischer Sprecher der SPD-Fraktion. Als Staatsminister ist er heute der Stellvertreter von Außenminister Frank-Walter Steinmeier und nimmt auch an EU-Ratstagungen teil.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.09.2015)

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