Flüchtlingskrise: Europa an seinen Grenzen

Syrian refugees are reflected in a puddle as they wait at the Greek-Macedonian border
Syrian refugees are reflected in a puddle as they wait at the Greek-Macedonian border(c) REUTERS
  • Drucken

Organisatorisch ist der von Tag zu Tag steigende Flüchtlingsansturm kaum noch zu bewältigen. Politisch wird er für aufnahmebereite Länder wie Deutschland zum Risiko.

Berlin/Wien. Ein einziger Tag. In Mazedonien sind 7600 Menschen angekommen, Serbien meldet einen Rekord von 5000 Menschen binnen 24 Stunden. In Nickelsdorf stieg die Zahl der Durchreisenden am Freitag auf rund 4000. In München kamen gleichzeitig 7000 weitere Flüchtlinge an, die von der Balkanroute und aus Italien eintrafen. Und es geht weiter. Für die nächste Woche werden an der ungarisch-österreichischen Grenze 30.000 Neuankömmlinge erwartet. Die meisten wollen wie bisher nach Deutschland weiterreisen.

Obwohl die Versorgung und Organisation dieses gewaltigen Flüchtlingsansturms kaum noch zu bewältigen ist, bekräftigte die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel, dass „das Grundrecht auf Asyl keine Obergrenze“ kenne. Sie stützt sich eisern auf die Genfer Flüchtlingskonvention und einen Koalitionsbeschluss. Wie lange, so fragen sich Beobachter, wird sie das allerdings noch durchhalten?

An den Rahmenbedingungen in den Herkunftsländern wird sich so rasch nichts ändern. Das UN-Flüchtlingshochkommissariat erwartet einen weiteren Zuzug. „Die aktuelle Lage in Syrien und den Nachbarstaaten zwingt Tausende dazu, die gefährliche Reise nach Europa anzutreten“, heißt es in einem aktuellen Bericht des UNHCR. 4,09Millionen Flüchtlinge sind mittlerweile in den Ländern rund um Syrien registriert. Dazu kommen die Fluchtwellen aus dem Irak, Afghanistan und Eritrea.

Obwohl in der Bevölkerung die Bereitschaft zur Hilfe gestiegen ist, wird für Regierungen wie der deutschen die Aufnahme zu einem politischen Risiko. UN-Flüchtlingshochkommissar António Guterres warnt denn auch, dass „kein Land es allein schaffen kann“. Am Montag wollen die EU-Innenminister die Aufteilung von zumindest 40.000Asylwerbern aus Italien und Griechenland in den restlichen EU-Staaten auf den Weg bringen. Ein Tropfen auf den heißen Stein. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker schlug die Umsiedlung von insgesamt 160.000 Personen vor; laut UNHCR müssten eigentlich akut 200.000 aufgeteilt werden. Kommt am Montag in Brüssel keine Einigung zustande, will EU-Ratspräsident Donald Tusk einen Sondergipfel einberufen.

In Deutschland steigt angesichts der aktuellen Flüchtlingszahl der innenpolitische Druck auf Merkel. Der Koalitionspartner aus Bayern feuert bereits aus allen Rohren in Richtung Berlin. CSU-Chef Horst Seehofer sieht in der zuletzt ungehinderten Möglichkeit für Flüchtlinge, über Ungarn nach Deutschland einzureisen, einen „Fehler, der uns noch lang beschäftigen wird“. Die Republik komme dadurch in „eine nicht mehr zu beherrschende Notlage“. Auch Bayerns Finanzminister, Markus Söder, kritisiert die als Ausnahme gedachte Maßnahme, da sie nun zur Regel zu werden drohe. Der Politiker schlägt nicht nur die Herabsetzung deutscher Asylstandards auf europäisches Niveau vor, sondern stellt auch das individuelle Asylrecht infrage. Merkel selbst sieht hingegen keinen Grund, etwas zu ändern.

Ruf nach Atempause

Die CSU gilt in der Flüchtlingsfrage als größte und lauteste Kritikerin Merkels. Dies ist wohl nicht nur dem Grenzverlauf des Bundeslandes, sondern auch der deutschen Verteilungsquote geschuldet. Bayern muss nach Nordrhein-Westfalen die Hauptlast des Flüchtlingsstroms tragen. Allein seit vergangenem Wochenende trafen mehr als 40.000 Schutzsuchende in München ein. Tausende weitere werden für Samstag und Sonntag erwartet. Der Freistaat fühlt sich überrumpelt, da die „Grenzöffnung“ nicht abgestimmt gewesen sei. Die Verteilung der Neuankömmlinge gestaltet sich derweil schwierig. In Baden-Württemberg kam es beispielsweise erst in dieser Woche zu einem kurzzeitigen Aufnahmestopp. Auch in Bayern ist die Lage angespannt. Der Präsident des Deutschen Landkreistags, Reinhard Sager (CDU), fordert daher eine „dringende Atempause“ ein. Um die Situation bewältigen zu können, müsste vielerorts bereits der Katastrophenschutz hinzugezogen werden.

Noch halten CDU und SPD der Kanzlerin die Stange. Doch in der Bevölkerung regt sich langsam Unmut. In einer Erhebung für den TV-Sender N24 attestierten der Bundesregierung immerhin zwei Drittel der Befragten ein „eher schlechtes bis sehr schlechtes“ Krisenmanagement. Setzen sich in Deutschland jene durch, die dem Strom ein Ende bereiten wollen, hätte dies erhebliche Auswirkungen auf Österreich und Ungarn. Denn die Welle an Flüchtlingen würde sich hier plötzlich zurückstauen – mit unabsehbaren organisatorischen und finanziellen Folgen für die beiden eher kleinen EU-Länder.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.09.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Außenpolitik

Balkanroute: Flüchtlingsansturm wird noch zunehmen

Die slowenischen Behörden rechnen in den nächsten Tagen mit bis zu 10.000 Flüchtlingen. Kroatischer Premier an Serbien: "Schickt sie nach Ungarn."
Anti-Islamisten-Razzia in Berlin
Weltjournal

Deutschland: Radikalisierung von Flüchtlingen droht

Laut Verfassungsschutz versuchen Islamisten, unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe, Asylwerber zu missionieren und zu rekrutieren.
Außenpolitik

Flucht aus der Türkei: Zu Fuß statt im Schlauchboot

Die vielen Unglücksfälle auf dem Meer haben Flüchtlinge dazu bewogen, auf dem Landweg nach Europa zu fliehen. Von Edirne aus geht es nach Griechenland oder Bulgarien.
Europa

EU-Deal: Aufteilung und Eindämmung

EU-Innenminister dürften heute über Verteilung von 120.000 Asylwerbern entscheiden. Bei EU-Gipfel wird über Maßnahmen an Grenzen und in Herkunftsländern beraten.
Regierungschef Aleksandar Vucic
Außenpolitik

Neuer Streit zwischen Serbien und Kroatien wegen Grenzsperre

Serbiens Ministerpräsident Vucic ließ offen, welche Maßnahmen sein Land ergreifen werde, sollte Kroatien die gesperrten grenzübergänge nicht wieder öffnen.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.