EU-Innenminister: Poker um Quoten und Grenzkontrollen

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EU-Flüchtlingspolitik. Deutschlands Innenminister will in Brüssel eine Grundsatzeinigung über Verteilung von 160.000 Flüchtlingen erzielt haben. Innenministern Mikl-Leiter widerspricht.

Brüssel. Offiziell gab es zwar keinen Zusammenhang zwischen der Wiedereinführung von Kontrollen an innereuropäischen Grenzen und dem Sondertreffen der EU-Innenminister, bei dem am gestrigen Montag über einen gesamteuropäischen Umgang mit Asylwerbern gesprochen wurde. Doch den im Brüsseler Ratsgebäude Justus Lipsius versammelten Ressortchefs muss klar gewesen sein, dass Deutschland mit seiner Entscheidung vom Sonntag, die Grenze zu Österreich wieder zu kontrollieren, im Poker um verbindliche Flüchtlingsquoten den Einsatz erhöht hat. Und so konnte der deutsche Innenminister Thomas De Maiziere schon am frühen Abend verkünden, dass der Rat eine politische Grundsatzeinigung über die Verteilung von 160.000 anerkannten Flüchtlingen erzielt hat. Nach welchen Regeln die Flüchtlinge verteilt werden sollen, blieb allerdings noch offen – diese Entscheidung werden die Innenminister voraussichtlich bei ihrem nächsten Treffen am 8. Oktober in Luxemburg fällen.

Die von Maiziere angesprochene Einigung war allerdings die einzige gute Nachricht, denn von einem gemeinschaftlichen Umgang mit Flüchtlingen – also einem verbindlichen Verteilungsschlüssel – ist man weit entfernt. Der deutsche Ressortchef versuchte trotzdem, gemeinsam mit seinem französischen Kollegen Bernard Cazeneuve der Angelegenheit einen positiven Spin zu geben: Das deutsch-französische Duo wies unter anderem darauf hin, dass man beim Plan zur Errichtung von Anlaufstellen in Italien und Griechenland (sogenannte Hotspots) sowie bei der Erstellung einer Liste sicherer Drittstaaten vorangekommen sei. Und die Idee eines „Solidaritätsmechanismus“ sei nach wie vor nicht vom Tisch.

Dieser Minimalkonsens ändert nichts daran, dass mit dem deutschen Vorpreschen, auf das gestern kaskadenartige Grenzkontrollen in der Slowakei, den Niederlanden und Österreich folgten, der Fortbestand der Schengenzone in ihrer jetzigen Form auf dem Spiel steht. Der Schengener Grenzkodex sieht vor, dass „keine Grenzkontrollen in Bezug auf Personen stattfinden, die die Binnengrenzen überschreiten“. Es gibt eine auf zwei Monate befristete Sondererlaubnis für Kontrollen bei Ausnahmesituationen. Diese Sonderregelung wurde bis dato zweimal angewendet – 2011 vom Schengen-Mitglied Norwegen, als es darum ging, nach dem Attentat auf der Ferieninsel Utøya die Grenzen wegen Terrorgefahr zu sichern, sowie von Deutschland am Sonntag.

Ob sich der Ansturm auf diese Weise bewältigen lässt, ist fraglich. Denn die EU-Mitglieder bleiben trotz Kontrollen an den Binnengrenzen dazu verpflichtet, humanitären Beistand zu leisten. Soll heißen: Sobald ein Flüchtling an der deutschen (oder österreichischen) Grenze Asyl beantragt, darf er nicht abgewiesen werden – es sei denn, er wurde bereits in einem anderen EU-Mitgliedstaat registriert. Angesichts der Tatsache, dass Griechenland und Italien dieser Registrierpflicht derzeit nicht hundertprozentig nachkommen und Flüchtlinge weiterreisen lassen, bleibt die Wahrscheinlichkeit, dass Flüchtlinge erst anderswo um Asyl ansuchen, relativ hoch. An den Problemen dürfte auch der von Berlin geforderte und von Osteuropäern abgelehnte Verteilungsschlüssel wenig ändern. Denn es gibt keine Handhabe gegen Asylwerber, die nicht dort bleiben, wohin sie zugewiesen wurden, sondern in ein anderes EU-Land weiterreisen – etwa, weil dort Verwandte auf sie warten.

Mikl-Leitner: „Kein Beschluss“

Die EU-Innenminister haben freilich laut der österreichischen Ressortchefin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) gar nicht über eine Flüchtlingsquote diskutiert und auch keinen Beschluss getroffen. „Da heißt es dranbleiben und die Diskussion weiterführen“, sagte Mikl-Leitner nach Ende der Beratungen am Montagabend in Brüssel.

Gegen eine Einigung hätten sich vor allem die mittel-osteuropäischen und die baltischen Staaten gestellt. Das Ziel zur Verteilung von zusätzlich 120.000 Flüchtlingen in Europa sei nur „eine Empfehlung“ des luxemburgischen EU-Ratsvorsitzenden Jean Asselborn. „Wir hatten keinen Beschluss in dem Sinne. Aber nichtsdestotrotz muss sich Europa so rasch wie möglich wieder an einen Tisch setzen und weiter verhandeln.“ Ein EU-Sondergipfel sei noch nicht beschlossen worden. „Entweder scheitert Europa an der Flüchtlingsfrage oder wir lösen gemeinsam diese große Herausforderung“, sagte Mikl-Leitner. Sie wolle aber niemandem drohen. „Von der heutigen Sitzung war nicht mehr zu erwarten.“

De Maiziere: Kein einstimmiger Beschluss

Die EU-Innenminister haben sich nach Angaben des deutschen Ressortchefs Thomas de Maiziere nicht einstimmig auf die Verteilung von bis zu 160.000 Flüchtlingen geeinigt. Die Grundsatzeinigung sei durch qualifizierte Mehrheit erfolgt. "Einige Staaten fühlen sich offenbar einer solidarischen Verantwortung angesichts dieser großen Herausforderung noch nicht verpflichtet", kritisiert de Maiziere.

(la)

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.09.2015)

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