Wie soziale Medien die Flucht verändern

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Themenbild(c) REUTERS (RALPH ORLOWSKI)
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Mit Handy nach Europa. Die Vernetzung im Internet ist zum wesentlichen Faktor für eine gelungene Flucht geworden. In manchen Fällen rettet sie Leben.

Es sind traurige, herzzerreißende und manchmal fröhliche Geschichten, die Flüchtlinge seit Wochen auf der Kurznachrichtenplattform Twitter in die Öffentlichkeit schießen. Da gibt es Fotos von Frauen und Kindern, die seit Tagen vermisst werden. Da gibt es Nachrichten auf Arabisch, die Flüchtlinge vor Minen an der Grenze zwischen Kroatien und Serbien warnen.

Es gibt aber auch Erfolgsgeschichten: Tagelang verfolgten Twitter-User aus Deutschland, Österreich und Dänemark, den auszehrenden Weg eines Syrers. Gemeinsam mit Hunderten anderen war er stundenlang im March of Hope vom ungarischen Györ in Richtung Wien unterwegs. Wenige Tage später marschierte er ein weiteres Mal, als Dänemark seinen Zugverkehr nach Schweden stoppte. Sein Bruder hatte die ganze Reise verfolgt und auf Twitter mehrmals lokale Hilfe für die Reisenden mobilisiert – bis die Geschwister schließlich in Schweden wieder aufeinandertrafen.

Soziale Medien – und mit ihnen ein aufgeladenes Smartphone und Internetzugang – sind ein wesentlicher Faktor für eine gelungene Flucht geworden. Viber, Facebook, What'sApp und Skype erleichtern nicht nur, mit Familie und Freunden im Heimat- oder Zielland in Kontakt zu bleiben. Vielmehr ermöglichen sie auch eine effizientere Organisation humanitärer Hilfe und die Vernetzung der Flüchtlinge auf ihrer Route in die EU.

Die Jagd nach der nächsten Steckdose

Als Ungarn Anfang September Flüchtlinge in ein Auffanglager nahe dem Budapester Vorort Bicske bringen wollte, statt sie im Zug nach Deutschland fahren zu lassen, wussten das bald nicht nur Menschen, die im Aufnahmezentrum Röszke an der serbischen Grenze festsaßen, sondern auch die Wartenden auf dem Bahnhof Keleti. Passagiere des gestoppten Zuges alarmierten Nachfolgende. Gleichzeitig koordinierten sie sich untereinander, berichtet Kate Coyer, Leiterin des Projekts Zivilgesellschaft und Technologie an der Central European University in Ungarn. Per SMS oder Online-Nachrichtendiensten stimmten sich die Festsitzenden miteinander ab. Auch ein Video von dem Vorfall sei im Umlauf gewesen.

Wie wichtig der Zugang zu Kommunikationsmitteln für Flüchtlinge mittlerweile ist, sei kein Geheimnis mehr, erzählt sie. Aus diesem Grund startete sie eine Aktion, Flüchtlingen an den Budapester Bahnhöfen Strom und Internet zur Verfügung zu stellen. Zunächst aus privater Tasche und später durch Spenden versorgte sie die Hilfesuchenden mit mobilen Internet-Hotspots und portablen Ladestationen. Denn Handys könnten Flüchtlingen manchmal auch das Leben retten, sagt Coyer.

So wird die Jagd nach der nächsten Steckdose, der sich stets leerende Akku zu einem Kampf ums Überleben. „Unsere Handys aufzuladen war am schwierigsten“, erzählt Wael al-Kayal. In jedem Lokal, in jeder Unterkunft habe er sein Telefon und eine extra Batterie aufgeladen. „Sie mussten voll sein, bevor ich ging. Die Helligkeit habe ich auf ein Prozent gestellt, um Energie zu sparen“, sagt der 24-jährige Syrer. „Um unsere Familien anzurufen, um Google-Maps und GPS nutzen zu können, kauften wir in jedem Land auf unserer Route neue SIM-Karten.“

Ende August ging es für Kayal und drei seiner Freunde von der türkischen Stadt Izmir auf mehreren Etappen zur Mittelmeerküste – zuerst in verschlossenen Lastwagen, danach zu Fuß. Mit dem GPS auf seinem Handy verfolgte der junge Mann die Schlepperroute. „Sie steckten uns in ein kleines Boot“, schildert er. „Dank meines Handys wusste ich schon, zu welcher Insel wir fuhren.“ Die letzten 200 Meter zum griechischen Samos mussten sie schwimmen – die Smartphones in wasserfeste Hüllen verpackt. „Auf der Insel angekommen, überprüften wir, ob wir wirklich in Griechenland waren. Danach sprachen wir auf Viber und What'sApp mit unserer Familie.“

Wichtige Infos für die Küstenwache

Noch im Truck aber informierte Kayal andere Flüchtlinge auf einer der speziell eingerichteten Facebook-Gruppen von der Überfahrt – falls er in Seenot geraten sollte: „Es gibt so viele Seiten wie diese. Man postet einfach seine Koordinaten in die Gruppe und sie rufen die Küstenwache. Manchmal reagieren sie, manchmal nicht.“ Auf ähnlichen Seiten informieren sich Flüchtlinge auch über ihre Reise: von Details über die richtige Route bis hin zu Informationen über geeignete Zelte, billiges Essen – und Schlepper.

Vor allem Währungsrechner spielten im Umgang mit Schmugglern eine wichtige Rolle, sagt Coyer. Flüchtlinge wüssten damit nicht nur, wie viel sie in der Landeswährung ausgeben. Sie teilten die genauen Preise auch anderen mit. „Mobiltelefone werden Schlepper zwar nicht stoppen, aber Flüchtlinge können nicht mehr so über den Tisch gezogen werden“, sagt sie.

Zwar besitzen nicht alle Flüchtlinge ein Handy – Syrer sind meist am besten ausgerüstet, während Afghanen, Pakistani oder Eritreer beschwerlichere Reisen mit wenigen technischen Hilfsmitteln bestreiten müssen. Zumindest ein Telefon pro Gruppe sei aber üblich. Wenn es auch das nicht gibt, sei die Hilfsbereitschaft der Flüchtlinge untereinander groß, beobachtete Coyer in Budapest.

Kayal jedenfalls ist überglücklich, in Deutschland angekommen zu sein. Fotos auf Facebook zeigen, wie er in einem kleinen Örtchen inmitten bewaldeter Hügel und Felder in die Kamera strahlt. „Ein wundervoller Ort, und die Leute sind die besten.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.09.2015)

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