Sozialleistungen: Brüssel reformiert den freien Personenverkehr

(c) EPA (Vassil Donev)
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Die Kommission will die besonders im Westen der EU kritisierte Entsenderichtlinie für Arbeitnehmer modifizieren und nationale Sozialsysteme stärker miteinander vernetzen. London kommt die Reform entgegen.

Brüssel/Straßburg. „Die Personenfreizügigkeit für Arbeitnehmer ist ein Symbol der erfolgreichen europäischen Integration. Dieser Erfolg ist jetzt in Gefahr“ – mit diesen dramatisch klingenden Worten stimmte Valdis Dombrovskis, der für den Euro und den sozialen Dialog zuständige Vizepräsident der EU-Kommission, seine Zuhörer am gestrigen Dienstag auf eine Reform des freien Personenverkehrs innerhalb der Union ein. Gemeinsam mit EU-Beschäftigungskommissar Jyrki Katainen kündigte Dombrovskis ein (teilweises) Umdenken der Brüsseler Behörde hinsichtlich der Personenfreizügigkeit an: Bis Jahresende wird die Kommission ein Maßnahmenpaket zur Mobilität der Arbeitskräfte schnüren. Das Ziel gemäß Dombrovskis: „Fairness für Arbeitgeber und Arbeitnehmer.“

Nähere Details zu der Initiative gab es am Montag nicht, dem Vernehmen nach geht es unter anderem um eine Modifizierung der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern, die seit Jahren im Westen der EU für Irritationen sorgt – weil sie, so die unter anderem in Deutschland artikulierten Vorwürfe, ein Einfallstor für Sozialdumping sei. Ein weiteres Ziel der Brüsseler Behörde ist die stärkere Vernetzung der nationalen Sozialsysteme – um zu verhindern, dass EU-Bürger den Wohnsitz nur wechseln, um in den Genuss von Sozialleistungen zu kommen. Genau dieses Thema steht auch im Mittelpunkt der Verhandlungen mit Großbritannien, bei denen es um eine Neudefinition der britischen EU-Mitgliedschaft geht. Bei seinen Bemühungen, den Zuzug von EU-Ausländern einzuschränken, erhielt Premierminister David Cameron am Dienstag Rückendeckung vom Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs. Pedro Cruz Villalón empfahl gestern in seinen Schlussanträgen den EuGH-Richtern, in einem Rechtsstreit mit der EU-Kommission (Rechtssache C-308/14) der britischen Argumentationslinie zu folgen.

Großbritannien Gipfel-Thema

Die Causa dreht sich um verweigerte Sozialleistungen für Neuankömmlinge aus anderen Mitgliedstaaten, die sich nach Ansicht der britischen Behörden nicht rechtmäßig in Großbritannien aufhalten. Laut dem Generalanwalt sei dies zwar eine „mittelbare Diskriminierung“ von EU-Bürgern – doch derartige Ungleichbehandlung sei gerechtfertigt, um „die Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats zu schützen“. Das Argument, wonach London kein Recht habe, Sozialleistungen zu verweigern, dürfte damit vom Tisch sein – denn die EuGH-Richter halten sich in neun von zehn Fällen an die Schlussfolgerungen des Generalanwalts. Gelegen dürfte Cameron auch die Tatsache kommen, dass die Kommission ihren Vorschlag zur Reform der Personenfreizügigkeit bis Dezember präsentieren will. Denn das Thema Großbritannien steht ganz oben auf der Agenda des EU-Gipfels am 17. und 18. Dezember. Cameron hat den Briten versprochen, dass sie spätestens 2017 über die EU-Mitgliedschaft ihres Landes abstimmen dürfen. Die Personenfreizügigkeit ist Bestandteil der neuen Binnenmarktstrategie, die Brüssel in den kommenden Monaten präzisieren wird, zu deren bereits publik gemachten Komponenten die Energieunion, die Reform der EU-Finanzmärkte sowie der Europäische Fonds für Strategische Investitionen (vulgo Juncker-Fonds) zählen.

Um den möglichen Vorwurf osteuropäischer EU-Mitglieder zu entkräften, wonach die Reform einzig dazu diene, ihre Bürger von den Arbeitsmärkten im wohlhabenden Westen der Union fernzuhalten, hat sich Kommissar Dombrovskis gestern bemüht, der Angelegenheit einen positiven Anstrich zu geben: Demnach gehe es nicht nur um die Bedenken der Zielländer, sondern auch um das ökonomische Wohlergehen der Herkunftsländer, die unter einer Massenabwanderung der Fleißigen und Dynamischen leiden würden.

AUF EINEN BLICK

Die EU-Kommission will bis Ende des Jahres ein Maßnahmenpaket zur Mobilität der Arbeitskräfte schnüren. Dabei dürfte die Entsendelinie für Arbeitnehmer, die einige westliche EU-Länder als Einfallstor für Sozialdumping kritisieren, reformiert werden. Auch eine stärkere Vernetzung der nationalen Sozialsysteme strebt die Brüsseler Behörde an. Dem britischen Premier, David Cameron, kommen die Pläne zupass.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.10.2015)

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