Europaparlament: "Bewährungsprobe historischen Ausmaßes"

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Merkel und Hollande besuchten gemeinsam die Bürgervertretung der EU. Das Hauptthema der Debatte war die Flüchtlingskrise und die Suche nach gemeinsamen Lösungen auf EU-Ebene.

Wien/Straßburg. 26 Jahre sind vergangen, seit François Mitterrand und Helmuth Kohl gemeinsam vor dem EU-Parlament gesprochen haben – und es war bis zum gestrigen Tag der letzte Auftritt eines deutsch-französischen Tandems im europäischen Abgeordnetenhaus. Dass Angela Merkel und François Hollande es ihren – wenn auch nicht unmittelbaren – Vorgängern am Mittwoch gleichtaten, sollte vor allem eines deutlich machen: Der Zusammenhalt zwischen Berlin und Paris ist in Krisenzeiten unverändert stark. Neben der Klima- und Wirtschaftspolitik der Union stand freilich ein Thema im Mittelpunkt: die Flüchtlingsfrage. Der Wunsch nach einer Intensivierung gemeinsamer Maßnahmen dominierte die Debatte, der auch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker beiwohnte.

Merkel war es, die gleich zu Beginn ihrer Rede einen Vergleich zum November 1989 zog, als Mitterrand und Kohl bei ihrem Besuch im EU-Parlament kurz nach dem Mauerfall die „Umbrüche in Deutschland und Europa gespürt und sich davon tief bewegt gezeigt haben. Beide bekannten sich damals zu gemeinsamen europäischen Antworten“, erinnerte sie. Gemeinsame Antworten müsse man auch jetzt, in der Flüchtlingskrise, finden. Diese sei „eine Bewährungsprobe historischen Ausmaßes“, gestand Merkel ein. Jedoch, mahnte Hollande, könne „niemand die Augen verschließen gegenüber der Realität der Welt.“ Leider habe Europa erst sehr spät verstanden, dass die Tragödie im Nahen Osten und in Afrika nicht ohne Folgen für Europa selbst sein könne, kritisierte der Präsident. Umso mehr sei es nun vonnöten, die Fluchtursachen in den Herkunftsländern zu bekämpfen und sich finanziell stärker zu engagieren. Dies brauche „Zeit, Geduld und einen langen Atem“, so Merkel.

Keinesfalls aber könne Europa sich von den globalen Ereignissen entkoppeln. „Niemand verlässt seine Heimat leichtfertig, auch ein Wirtschaftsflüchtling nicht“, sagte sie – und mahnte, dass in dieser Situation kein nationalstaatliches, sondern europäisches Handeln vonnöten sei.

In der Debatte um einen gerechten Verteilungsschlüssel der Flüchtlinge in der EU hatten sich besonders osteuropäische Länder quer gestellt. Merkel erinnerte, dass es auch nach der deutschen Einigung und dem Zusammenwachsen Europas durch die Osterweiterung nur mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung gelungen sei, nicht weniger, sondern mehr Wohlstand zu erreichen. Dies „zeigt, wozu Europäer in der Lage sind, wenn sie nur wollen, wenn sie Mut beweisen und zusammenhalten“.

Dass die Türkei als Transitland bei der Lösung der Flüchtlingskrise eine Schlüsselrolle spielen werde, betonten Merkel und Hollande unisono. Das Land sei unmittelbarer Nachbar der EU und der Ausgangspunkt der „irregulären“ Migration. Die Union ist also auf die Zusammenarbeit mit Ankara angewiesen – und im EU-Parlament regt sich darob Kritik: Aus Rücksicht auf die Kooperation mit der Türkei würde die EU bei heiklen Themen wie der mangelnden Pressefreiheit oder der Frage der Menschenrechte Nachsehen haben, so der Tenor. Befeuert wurden derlei Befürchtungen durch die Nachricht aus Brüssel, dass die Kommission die für kommende Woche geplante Präsentation der Fortschrittsberichte über die Kandidatenländer auf unbestimmte Zeit verschoben hat. In Straßburg kursierte das Gerücht, Präsident Recep Tayyip Erdoğan habe bereits einen kritischen Entwurf des türkischen Berichts erhalten, der ihm missfallen habe.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.10.2015)

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