EU: Ein Sozialsystem nur noch für Ältere

(c) Clemens Fabry
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Die Kluft zwischen Jung und Alt wird in der EU größer. Gründe liegen im nicht reformierten Pensionssystem und in den Haushaltsproblemen vieler europäischer Staaten.

Gütersloh/Wien. Haben die EU-Staaten ein Sozialsystem, das nur noch auf ältere Menschen zugeschnitten ist? Geht das Aufrechterhalten eines von öffentlichen Haushalten finanzierten Pensionssystems auf Kosten der Jungen? Beide wesentlichen Fragen im Zusammenleben der Generationen müssen nach den Ergebnissen einer am Dienstag veröffentlichten Studie der Bertelsmann-Stiftung mit Ja beantwortet werden. Die Auswertung mehrerer sozialer Parameter zeigt einen eindeutigen Trend in den meisten EU-Ländern: Die Kluft zwischen Jung und Alt wächst.

Junge Menschen sind zu einem weit größeren Anteil arbeitslos, sind stärker von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen und können sich deutlich öfter als über 65-Jährige materielle Grundlagen des täglichen Lebens nicht mehr leisten. Dies betrifft etwa ein Telefon oder eine beheizte Wohnung. Österreich ist keine Ausnahme. Während sich hier der Anteil der Jugendlichen und Kinder, die am Existenzminimum schrammen, von 3,7 Prozent im Jahr 2008 auf mittlerweile sechs Prozent erhöht hat, sind unter den über 65-Jährigen nur stabil bleibende zwei Prozent von solchen materiellen Entbehrungen betroffen.

Jene, die in den EU-Mitgliedstaaten erstmals auf den Arbeitsmarkt drängen, geraten in eine soziale Doppelmühle. Ihre Chancen auf einen Job und auf eine gute Bezahlung sinken ständig. Im Gegensatz dazu erlebten Pensionisten selbst in den Krisenjahren nur relativ geringe Einbußen.

Diese Entwicklung hat auch Auswirkung auf Familien und die heranwachsende nächste Generation. Der Anteil der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Kinder ist im EU-Durchschnitt seit 2007 von 26,4 auf 27,9 Prozent gestiegen. Auch bei diesem Indikator war der Trend der Bevölkerungsgruppe ab 65 gegenläufig. Unter den Älteren ist der Anteil der Armutsgefährdeten von 24,4 auf 17,8 Prozent gesunken.

Was sind die Gründe? Erstens ist die Finanz- und Wirtschaftskrise verantwortlich, die laut der Bertelsmann-Studie auch die Kluft zwischen Nord- und Südeuropa vergrößert hat. Sie hat die Lage der jüngeren Generation verschlechtert. Die Jugendarbeitslosigkeit ist in Ländern wie Spanien und Griechenland deutlich gestiegen. Zweitens leidet die Altersgruppe der zehn- bis 24-Jährigen mehr unter öffentlichen Einsparungen als die ältere Generation. Und drittens führt die demografische Entwicklung dazu, dass die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme immer stärker von den Jüngeren getragen werden muss.

Obwohl Staaten sparen müssen, wird ein teures Pensionssystem weiterhin finanziert. Infolge fehlt immer mehr Geld für Investitionen in die Zukunft – für Forschung, Innovation, Jobs und Bildung. Eine fatale Entwicklung, die in den meisten der 28 EU-Länder beobachtet werden kann: Eine junge Generation, die weniger verdient, muss ein Sozialsystem schultern, das immer teurer wird und von dem mehr und mehr ältere Personen profitieren. Aart De Geus, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann-Stiftung, warnt vor den Folgen dieses Teufelskreises: „Wir können uns eine verlorene Generation in Europa weder sozial noch ökonomisch leisten.“

Die Studie kritisiert nicht nur die ausbleibenden Reformen im Pensionssystem, sondern auch fehlende Gegenmaßnahmen im Bildungssystem. Stattdessen wird ein Teil der Jugend von einer höheren Ausbildung ausgeschlossen. Wer aus ärmeren Verhältnissen kommt, hat zunehmend Probleme, ein höheres Bildungsniveau zu erreichen. Während diese soziale Durchlässigkeit in Finnland und Estland gegeben ist, haben Jugendliche aus ärmeren sozialen Verhältnissen in Frankreich, Ungarn, Bulgarien und der Slowakei sinkende Chancen, eine gute Ausbildung abzuschließen.

Gute Beurteilung für Österreich

Österreich hat in der Beurteilung der Bertelsmann-Stiftung relativ gut abgeschnitten. Im Gesamtranking zur sozialen Gerechtigkeit kommt das Land auf Platz sechs noch vor Deutschland, aber hinter Schweden, Dänemark, Finnland, den Niederlanden und Tschechien. Gewürdigt wird in der Studie das duale Ausbildungssystem und die relativ niedrige Jugendarbeitslosigkeit.

Kritik äußern die Studienautoren auch in Österreich an der mangelnden sozialen Durchlässigkeit des Bildungssystems. Insbesondere Kinder von Migranten hätten wenig Chance, eine höhere Ausbildung abzuschließen. Auch der Zugang von Jugendlichen aus ärmeren Schichten zu einer Hochschulausbildung sollte verbessert werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.10.2015)

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