Rat der EU: Traum kontra Wirklichkeit

Mitgliedstaaten. Die Zusammenarbeit der Regierungsvertreter funktioniert gerade in den herausfordernden Fragen unserer Zeit oft nur schleppend. Ein gemeinsames höher gestecktes Ziel ist derzeit nicht zu erkennen.

Wien. „Europa besteht aus Staaten, die sich nicht vorschreiben lassen wollen, was sie selbst beschlossen haben.“ Wenn Satire und bitterer Ernst aufeinandertreffen, ist die Europäische Union beliebtes Objekt der Aufmerksamkeit – ein kompliziertes und bis heute einzigartiges Konstrukt, das die Interessen von derzeit 28 Mitgliedern unter einem Dach vereinen soll. Wie der Kabarettist Werner Schneyder haben schon andere mit der Ambivalenz gespielt, die das lose Staatengebilde für viele kennzeichnet: Die Entscheidungen auf Gemeinschaftsebene betreffen ausnahmslos jeden Bürger, doch nur wenige verbinden mit der EU etwas Positives. Ein Grund, weshalb selbst die Staats- und Regierungschefs mitunter versuchen, die Union als etwas Fremdes darzustellen, mit dem sie nichts zu tun haben.

Das Gegenteil ist der Fall. In dem recht intransparenten Prozess der Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene sind die Regierungen sogar das letztlich entscheidende Glieder in der Kette – nicht die viel gescholtene Brüsseler Kommission. Kein Rechtsakt der EU, keine Verordnung und keine Richtlinie kann erlassen werden, ohne dass der Rat der EU-Mitgliedstaaten – das wohl mächtigste Gremium im Zusammenspiel der Institutionen – seine Zustimmung gibt. Die Kommission liefert Gesetzesvorschläge, das Europaparlament hat vielfach Mitentscheidungskompetenzen. Die Vertreter der EU-Hauptstädte aber bestimmen von Sitzung zu Sitzung, welchen Kurs der schwerfällige Dampfer Europa einschlagen soll.

Dabei ist Streit programmiert. Historische und ideologische Unterschiede, der Fokus auf den Wählerwillen zu Hause oder grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten in wichtigen Sachfragen machen die Treffen der Fachminister nicht selten zu stundenlangen Krimis. Die EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs, formal Europäischer Rat genannt, beginnen meist erst abends und dauern bis tief in die Nacht, wohl auch, um symbolisch das dramatische Zustandekommen gemeinsamer „Schlussfolgerungen“ zu unterstreichen. Ein wichtiges Grundgesetz nach solchen Sitzungen beherrschen alle Teilnehmer, und sind sie auch erst seit Kurzem auf dem Brüsseler Parkett vertreten: Egal, welcher Kompromiss erzielt wurde, er muss in der Heimat als Sieg verkauft werden.

Es ist ein Grundproblem, das die Treffen des EU-Rats kennzeichnet: Dass es zu oft um Sieg oder Niederlage geht, selten aber um das gemeinsame Erreichen eines höher gesteckten Ziels, das im Idealfall alle Beteiligten teilen. Der Traum, dass die Union eine gemeinsame Richtung in den großen, drängenden Fragen unserer Zeit einschlägt, wird leider allzu oft von der Wirklichkeit zerschlagen. Die gemeinsame Entscheidungsfindung der 28 läuft gerade dann besonders stockend, wenn ein geschlossenes Vorgehen auf europäischer Ebene im Sinne aller besonders wünschenswert – ja, dringend geboten, wäre. Dieser Eindruck manifestierte sich wieder einmal nachhaltig während der Eurokrise, als die Staats- und Regierungschefs – getrieben vom unmittelbaren Handlungszwang – allein die Entscheidungsgewalt übernahmen, sich in weiterer Folge aber nur in kleinen Schritten vorantasten konnten. Das Ziel, eine engere wirtschaftliche Koordination in den europäischen Verträgen zu verankern, scheiterte in beeindruckender Weise.

Frage nach Demokratie

Alternativ blieb den Staaten nur, Kompromisse auf intergouvernmentaler Ebene festzulegen – der Fiskalpakt und der permanente Europäische Rettungsschirm ESM, der Hilfen für Schuldenländer bereitstellt, wurden in dieser Zeit aus der Taufe gehoben.

Die Frage nach der mangelnden demokratischen Legitimation solch weitreichender Entscheidungen, die besonders die großen EU-Länder Deutschland und Frankreich forcierten, wirkt bis heute bitter nach. Doch kaum war die unmittelbare Gefahr einer Pleite in Ländern wie Griechenland gebannt, brach eine weit dramatischere Krise über Europa herein, deren Folgen völlig unabsehbar sind: die Flüchtlingswelle. Die Zusammenarbeit der EU-Regierungen bietet in diesen Tagen ein jämmerliches Bild; nationalstaatliche Interessen prägen die Debatte.

Durch die Mitgliedstaaten geht ein tiefer Riss, der auf der Landkarte Europas eine vertikale Teilung zeigt: Während der Westen mehr Solidarität einfordert, wollen Länder im Osten der EU von einem Lastenausgleich bei der Flüchtlingsverteilung nichts wissen.

Auch auf die keinen Aufschub duldenden außenpolitischen Fragen wie den Bürgerkrieg in Syrien oder den Kampf gegen den IS, die den Menschenstrom Richtung Europa verursachten, haben die Mitgliedstaaten bis heute keine Antwort. Wenig überraschend, muss man sagen, ist die EU doch gerade in einer Zeit, in der eine Krise die andere jagt, vor allem mit sich selbst beschäftigt. Nicht einmal die Frage, ob es in Zukunft mehr oder weniger Europa braucht, können die Staatenlenker derzeit einstimmig beantworten. Der britische Regierungschef, David Cameron, macht sein Werben für einen Verbleib in der EU im Vorfeld einer In/out-Abstimmung gar von Zugeständnissen aus Brüssel abhängig, wieder mehr Kompetenzen zurück in die Hauptstädte zu verlagern.

Dabei zeigt sich gerade während der Flüchtlingskrise, dass nachhaltige Lösungen für große Herausforderungen nur in enger, solidarischer Zusammenarbeit aller Mitgliedstaaten erreicht werden können. Bis dahin aber, so steht zu befürchten, ist es noch ein weiter Weg.

AUF EINEN BLICK

Der Rat der EU ist das wohl wichtigste Entscheidungsgremium im europäischen Institutionengefüge. Während die Kommission Gesetzesvorschläge entwirft und das Europaparlament vielfach Mitentscheidungskompetenzen hat, bestimmen die Vertreter der Mitgliedstaaten den grundsätzlichen Kurs, den die Union in den wichtigen Fragen einnimmt. Dabei kommt es nicht selten zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den Protagonisten: Das war in der Eurokrise so, als der Versuch scheiterte, Instrumente zur strengeren Haushaltsüberwachung in den Europäischen Verträgen zu verankern. Auch in der Flüchtlingskrise zeigt sich die unterschiedliche Interessenlage der 28 Mitgliedstaaten. Zu sehr sind die Regierungen mit sich selbst beschäftigt, als dass Probleme von außen einer gemeinsamen Lösung zugeführt werden könnten: Selbst die Frage, ob die Zusammenarbeit auf EU-Ebene künftig intensiviert oder gelockert werden sollte, ist Gegenstand von Diskussionen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2015)

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