Das Zentrum der Macht hat verschlossene Türen

EU-Gipfel. Mindestens viermal im Jahr treffen sich die Staats- und Regierungschefs der EU. Die Runde hat ihre eigene Dynamik, ihre Leader und ihre Widersprüche.

Brüssel. Ein seltsames Bild: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker grinst, als der ungarische Premierminister, Viktor Orbán, sich nähert. „The dictator is coming“, sagt er so laut, dass es alle Mikrofone im Umfeld aufnehmen können. Dann klopft er dem Regierungschef lachend auf den Kopf, als würde er ihm zur Strafe einen Klaps versetzen. Der Umgangston im Kreis der EU-Spitzen, die sich alle paar Monate in Brüssel treffen, um das Schicksal der Europäischen Union zu beraten, ist längst nicht so respektvoll, wie sich das viele vorstellen mögen. Wenn die Türen verschlossen sind, soll es noch viel roher zugehen als bei der Begrüßung vor den Kameras.

Dann, so berichten Anwesende, hat der ehemalige italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi schon einmal schlüpfrige Witze erzählt, dann sind sich Frankreichs einstiger Staatspräsident Nicolas Sarkozy und der britische Premierminister, David Cameron, ordentlich in die Haare geraten. „Sie haben eine gute Gelegenheit verpasst, den Mund zu halten“, zischte Sarkozy quer über den Verhandlungstisch. „Wir haben es satt, dass Sie uns ständig kritisieren und sagen, was wir tun sollen. Sie sagen, Sie hassen den Euro, und jetzt mischen Sie sich in unsere Sitzungen ein.“

Das Buch des ORF-Korrespondenten Raimund Löw und der deutschen Journalistin Cerstin Gammelin („Europas Drahtzieher“, Econ-Verlag) ist nur eine der Quellen, die aus jenen geheimen Mitschriften zitieren, die bei jedem der Gipfeltreffen angefertigt werden. Immer wieder gelangen ein paar Zitate an die Öffentlichkeit. Sie legen die Konflikte, die Eitelkeiten und die überbordenden nationalen Interessen dieser Runde offen. Der Europäische Rat, wie der Gipfel offiziell heißt, sollte Grundsatzentscheidungen für die EU treffen, die Gemeinschaftsinteressen voranbringen. Aber sehr oft blockieren sich die Anwesenden gegenseitig. Die Weitsicht dominiert nur selten.

Es gehört zu den Kuriositäten der Konstruktion dieser Gemeinschaft, dass es gerade die innenpolitisch orientierten Alfawölfe sind, die in nächtlichen Sitzungen in Brüssel die großen Fragen Europas, von neuen Verträgen bis zur Lösung der Schulden- und Flüchtlingskrise, behandeln sollen. Um ihre Umwege und Volten nicht öffentlich breitzutreten, tagen sie sicherheitshalber hinter verschlossenen Türen. Ganz anders als in Parlamenten fallen Entscheidungen ohne Beobachter, ohne Journalisten. Diese werden im Brüsseler Ratsgebäude auf andere Stockwerke verbannt, abgeschottet von Männern mit Knopf im Ohr und grimmigem Blick.

Zugang zu Antici-Berichten

Transparenz ist in diesem System nicht vorgesehen. Als in den 1990er-Jahren ein diplomatischer Beobachter die Mitschriften aus dem Saal – sie werden nach einem ehemaligen italienischen Diplomaten Antici-Berichte genannt – unter Verschwiegenheitspflicht den Journalisten vortrug, um ihnen einen besseren Einblick in die Verhandlungen zu verschaffen, da wurde er umgehend sanktioniert und künftig überwacht. Gipfeltreffen sind das Machtzentrum der EU, in das niemand Einblick haben soll.

Als es um Griechenland oder die Ukraine ging, blieben die Staats- und Regierungschefs nächtelang im achten Stockwerk des Justus-Lipsius-Gebäudes kaserniert. Sie bekamen Essen und Kaffee gegen die Müdigkeit. Am nächsten Morgen waren ihnen die Erschöpfung und die vielen ausgetragenen Konflikte anzusehen. Aber erst dann durften sie, jeder für sich, das Verhandlungsergebnis verkünden und interpretieren. 28 Staats- und Regierungschefs, die alle versucht haben, im großen Saal zu Wort zu kommen, geben freilich dem Bild nicht selten ganz widersprüchliche Schattierungen.

Es ist ein Faktum, dass im Kreis der europäischen Staatslenker nicht alle die gleiche Rolle spielen. Deutschland und Frankreich waren über viele Jahrzehnte Triebfeder einer immer engeren europäischen Zusammenarbeit. Und noch immer haben der französische Präsident und der deutsche Regierungschef die Deutungshoheit in diesem erlauchten Kreis. Das ist positiv, wenn es etwa um gemeinsame Signale an Russland geht oder um die Durchsetzung einer Quote zur Aufteilung von 120.000 Flüchtlingen. Es ist aber auch negativ, wenn sich die beiden Länder herausnehmen, Reformen zu behindern oder ihrem jeweiligen Protektionismus zu fröhnen – sei es in der Agrar-, sei es in der Industriepolitik. Gerhard Schröder und Jacques Chirac etwa blockierten 2003 die Reform der EU-Agrarpolitik. Sie trafen sich vorab im Hotel Konrad in Brüssel und gaben vor, was der Rest der Amtskollegen nur noch absegnen durfte. Die deutsch-französischen Treffen vor dem Gipfel sind zu einem regelmäßigen Ritual geworden, um die gemeinsame Linie festzulegen. Die Kritik an dieser Vormacht ist freilich oft widersprüchlich. Schaffen Berlin und Paris, eine gemeinsame Position durchzusetzen, wird ihnen dies angeprangert, gelingt ihnen das nicht, werden sie kritisiert, ihre gesamteuropäische Verantwortung nicht wahrzunehmen.

Vergessen wird oft, dass bei EU-Gipfeltreffen fast alle Entscheidungen im Konsens fallen. Es liegt letztlich an jedem der 28 Staats- und Regierungschefs, den Finger zu heben oder zu senken. Ihre hinter verschlossenen Türen verborgene Macht ist weit größer als in der Öffentlichkeit bekannt. Um sich im Kreis der Alfawölfe durchzusetzen, braucht es jedoch starke Argumente und – siehe Deutschland – starke Verbündete.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2015)

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