Als der Gipfel in Brüssel die Macht übernahm

Institutionengefüge. Seit der Eurokrise haben die Treffen der Regierungschefs an Bedeutung gewonnen.

Wien. Zur ruhigen, neutralen Vorbereitungsarbeit durch Brüsseler Kommissionsbeamte fehlte plötzlich die Zeit: Als die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise vor mehr als fünf Jahren mit voller Wucht über Europa hereinbrach und das Pleite-Gespenst über mehreren EU-Mitgliedstaaten schwebte, war schnelles Handeln gefragt – und dieses nahmen die Staats- und Regierungschefs ganz allein in die Hand: Hektische Nachtsitzungen zur finanziellen Stützung von Schuldenländern wie Griechenland oder Zypern und zur Installierung einer neuen, permanenten Haushaltsüberwachung in Form des Fiskalpakts prägten das Geschehen in Brüssel. Das Krisenmanagement, ohne Zweifel das alles beherrschende Thema in dieser Zeit, war einzig und allein beim Europäischen Rat angesiedelt, der mit Milliarden jonglierte und den einzelnen Mitgliedstaaten eine strengere Fiskalpolitik verordnete.

Die Kommission, im üblichen, oft langwierigen Zusammenspiel der Institutionen als einziges Exekutivorgan für die Vorbereitung gemeinsamer Gesetzesinitiativen zuständig, geriet mehr und mehr ins Hintertreffen. Normalerweise soll die Behörde freilich selbst die wirtschaftspolitische Steuerung der EU-Staaten überwachen. Doch auch das Europaparlament konnte nur zusehen, wie der Europäische Rat die weitreichenden Entscheidungen an sich zog – obwohl die Bürgervertretung eigentlich durch Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Dezember 2009 formal an Macht dazugewonnen hatte.

Unterschiedliche Interessen

Der Zwang zur stärkeren Kooperation auf der zwischenstaatlichen Ebene brachte aber auch für die Protagonisten im Rat selbst Probleme mit sich. Denn die Mühlen der EU-Gipfel mahlen mitunter langsam – kein Wunder, sitzen doch mittlerweile 28 Staats- und Regierungschefs mit oftmals völlig unterschiedlich gelagerten Interessen an einem Tisch. Großbritannien etwa weigerte sich strikt, am Sparpakt für mehr Budgetdisziplin teilzunehmen; weshalb ein eigener Vertrag für die übrigen Mitgliedstaaten errichtet wurde. Europarechtler mahnten damals, dass sich die Regierungschefs mit derart weitreichenden, zwischenstaatlichen Abmachungen – der Fiskalpakt sieht etwa automatische Sanktionen bei Nichteinhaltung von Budgetregeln vor – am Rande dessen bewegen, was die EU-Verträge zulassen. Auch der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM, aus ihm speisen sich die Hilfen für Schuldenländer) konnte aufgrund von Differenzen nicht in gemeinsames europäisches Recht gegossen, sondern nur intergouvernemental organisiert werden.

Machtduo Deutschland/Frankreich

Besonders im Europaparlament wurde gleich zu Beginn die Besorgnis laut, dass die demokratische Kontrolle langfristig auf der Strecke bleiben könnte. Doch der damalige französische Staatspräsident hielt dagegen: „Der Umstand, dass die Führung fortan zu den Staats- und Regierungschefs zurückkehrt, markiert einen unbestreitbaren demokratischen Fortschritt“, zeigte sich der konservative Politiker überzeugt. Überhaupt war die Machtverschiebung zu den Ratsgremien insbesondere für das europäische Führungsduo Deutschland und Frankreich von Vorteil. Kanzlerin Angela Merkel und Nicolas Sarkozy trafen sich stets vor den EU-Gipfeltreffen in Brüssel, um eine gemeinsame Position abzustecken – die von den übrigen 26 (damals 25) dann meist nur noch abgesegnet werden sollte. So drängten die kleineren Mitgliedstaaten wie Österreich angesichts der Dominanz von Paris und Berlin bald wieder auf eine stärkere Einbindung von Parlament und Kommission.

Doch die Machtverschiebung setzte sich – zumindest beim wichtigen Thema Eurokrise – langfristig durch. Zuletzt zeigte sich das im Frühjahr 2015, als in einer dramatischen Gipfelnacht endlich eine Einigung für ein drittes Griechenland-Hilfspaket erzielt werden konnte. In der Flüchtlingskrise hingegen deutet sich eine Rückkehr zum ursprünglichen Prozedere im Institutionengefüge an; mehr noch: Die Kommission treibt die uneinigen, nicht handlungsfähigen Staats- und Regierungschefs mit neuen Initiativen vor sich her. Offenbar will die Behörde das Geschehen in Brüssel auch bei aktuell drängenden Fragen wieder stärker selbst in die Hand nehmen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2015)

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