Ohne Briten wäre es eine andere EU

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Nach einem Ausscheiden Großbritanniens wäre die EU weniger wirtschaftsliberal und atomfreundlich. Das Budget würde steigen, das Krisenmanagement könnte effizienter werden.

Wien/Brüssel. Erstmals lassen Umfragen in Großbritannien ein Nein zur weiteren EU-Mitgliedschaft erwarten. Laut einer Auswertung für den „Independent“ würden derzeit bei einem Referendum 52 Prozent der Wahlberechtigten für einen Austritt stimmen, 48 Prozent dagegen. Zahlreiche Studien und Analysen haben sich bisher mit den Folgen für Großbritannien auseinandergesetzt, sollte sich das Land tatsächlich gegen die Mitgliedschaft entscheiden. Doch was wären die Folgen für die EU?

Würden britische Minister in Brüssel nicht mehr mitentscheiden, würde das Land nicht mehr im Europäischen Parlament vertreten sein, es gäbe eine „substanzielle Änderung der Dynamik in den EU-Institutionen“, prognostiziert Vote Watch, eine private Organisation, die sich mit der Transparenz von EU-Entscheidungen beschäftigt. Ihre Analyse des bisherigen Abstimmungsverhaltens britischer Minister im Rat und britischer Abgeordneter im EU-Parlament zeigt, dass eine inhaltliche Verschiebung weg von einer wirtschaftsliberalen Ausrichtung der Union möglich wäre. So könnten in der EU neue Regulierungen für die Wirtschaft leichter als bisher abgesegnet werden. Im Mai dieses Jahres stimmten die 27 britischen EU-Abgeordneten geschlossen für einen Vorschlag der EU-Kommission, zahlreiche Regelungen wie etwa Recyceling-Auflagen für Unternehmen zu streichen. Die Abgeordneten von Torys, Labour und UKIP sprachen sich zudem in mehreren Abstimmungen für einen flexibleren Arbeitsmarkt aus und lehnten EU-weite Mindestlöhne ab.

Laut Vote Watch könnte sich auch das EU-Budget mit einem Ausscheiden Großbritanniens verändern. London bremste in der Vergangenheit sowohl im Rat der EU als auch im Europaparlament alle Versuche, den Gemeinschaftshaushalt zu erhöhen. Vor allem im Europaparlament gab es mehrere Versuche, den Haushalt zu erhöhen, um gemeinsame europäische Projekte finanzieren zu können.

Bei den ausgewerteten Abstimmungen auf EU-Ebene wurde deutlich, dass britische Politiker zwar oft gegen den Mainstream stimmten, die Mehrheitsentscheidungen aber selten gänzlich in eine andere Richtung drehen konnten. London gelang es zum Beispiel nicht, die Einführung einer Finanztransaktionssteuer gänzlich aufzuhalten. Einige EU-Mitgliedstaaten entschieden sich letztlich doch dafür. Großbritannien trug aber wesentlich zu deren verzögerter Einführung bei.

Harmonisierte Steuern

Alle Versuche, in der EU eine Steuerharmonisierung und damit eine Abkehr vom Steuerwettbewerb bei Unternehmenssteuern durchzusetzen, scheiterten zwar bisher auch nicht allein am britischen Veto, sondern vor allem am klaren Nein der Christdemokraten (EVP). Sie stellen derzeit sowohl unter den Staats- und Regierungschefs als auch unter den EU-Abgeordneten die größte Gruppe. Seit die Tories aus der EVP ausgetreten sind, bilden diese mit rechtskonservativen Parteien eine eigene, deutlich kleinere Fraktion im EU-Parlament.

Die Steuerfrage zeigt aber, dass sich die Machtverhältnisse in der Europäischen Union durch ein Ausscheiden Großbritanniens verschieben würden. Als im März dieses Jahres Sozialdemokraten, Liberale und Grüne im EU-Parlament Maßnahmen zur Steuerharmonisierung einforderten, stimmten 308 Abgeordnete für ihren Vorschlag, 370 dagegen. Ohne Briten hätten 298 für den Vorschlag und lediglich 317 dagegen gestimmt. Der Überhang wäre also geringer gewesen.

Eine Verschiebung mit ungewissem Ausgang könnte sich auch bei der Atomkraft ergeben. Neben Frankreich hat sich bisher vor allem Großbritannien gegen Bestrebungen, eine gesamteuropäische Energiewende einzuleiten, gestellt.

Die größte Änderung könnte ein Brexit für das Krisenmanagement der EU bringen. Großbritannien sträubt sich seit 2008 gegen alle Versuche, die Finanz- und Schuldenkrise durch ein gemeinsames Vorgehen zu lösen und nachhaltige Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Das war der Hauptgrund dafür, dass beispielsweise der Euro-Rettungsschirm als bilateraler Vertrag abseits des EU-Rechts installiert werden musste. Die Bankenunion, die künftig Fehlentwicklungen im Finanzsektor unterbinden soll, wurde zum latenten Streitobjekt zwischen London und Brüssel. Großbritannien will die Londoner City vor neuen Regulierungen aus Brüssel schützen. Und es lehnt die gemeinsame Währung prinzipiell ab. Premierminister David Cameron bezeichnete den Euro einmal sarkastisch als „brennendes Haus ohne Türen“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.11.2015)

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