"Deutschlands Einfluss in der EU ist strukturell"

Mujtaba Rahman vom britischen Thinktank Eurasia Group ortet drei Faktoren, die Deutschland zugutekommen: erstens die wirtschaftliche Stärke, zweitens die institutionelle Vernetzung und drittens die relative Schwäche anderer EU-Mitglieder.

Die Presse: Der „Economist“ bezeichnete Angela Merkel unlängst als „unentbehrliche Europäerin“. Inwieweit ist der Aufstieg Deutschlands in der EU das Verdienst der Bundeskanzlerin?

Mujtaba Rahman: Sie hatte ohne Zweifel ihren Anteil daran. Doch mittlerweile ist der deutsche Einfluss auf die EU strukturell gefestigt und nicht von der Person Angela Merkel abhängig.

Um welche strukturellen Faktoren handelt es sich?

Erstens ist der deutsche Einfluss eine Folge der Wirtschaftsstärke. Deutschlands Wirtschaft wächst nach wie vor stärker als der Durchschnitt der Eurozone, in den Gremien der Währungsunion verschafft das Legitimation. Der zweite Einflussfaktor ist institutioneller Natur: in der Europäischen Volkspartei, im Rat, in der EU-Kommission, im Europaparlament. Jede bedeutende europäische Institution wird entweder von Deutschen geleitet oder von Personen, die von Deutschland inthronisiert wurden – Jean-Claude Juncker, Donald Tusk, Federica Mogherini und so weiter. Und zu guter Letzt ist Deutschland so stark, weil andere EU-Mitglieder schwach sind. Frankreich ist wirtschaftlich und sicherheitspolitisch unter Druck, Polen hat mit dem Votum für die rechtspopulistische Partei Recht und Gerechtigkeit ein Eigentor geschossen, die Briten spielen wegen des bevorstehenden Brexit-Referendums defensiv, und Italien hat zwar mit Matteo Renzi an Statur gewonnen, ist aber noch lange nicht in der Lage, den Status quo infrage zu stellen.

Zurück zu Angela Merkel: Was ist das Geheimnis ihres Erfolges auf der europäischen Bühne?

Ein Faktor ist ihr starker innenpolitischer Rückhalt, den sie sich im Zuge der Schuldenkrise und der Verteidigung der Eurozone vor dem Zerfall erarbeitet hat. Zum Erfolg beigetragen hat auch ihre konstruktive, vermittelnde Rolle im Umgang mit Russland.

Nachdem Deutschland zum Princeps inter Pares aufgestiegen ist: Wie wird es nun seinen Einfluss einsetzen?

Merkel setzt ihr politisches Kapital bereits jetzt in der Flüchtlingskrise ein. Ihre Zustimmungsraten in Deutschland dürften im Laufe des kommenden Jahres abnehmen, wenn das ganze Ausmaß der Herausforderungen – im Nahen Osten, in der EU, mit der Türkei, in Deutschland selbst – offenbar wird. Aber es gibt dazu keine realistische Alternative.

Da Sie Großbritannien erwähnt haben: Welche Erwartungen haben Sie an Deutschland im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Referendum über die britische EU-Mitgliedschaft?

Die Briten haben ihre Lobbying-Bemühungen auf Deutschland konzentriert und es bis dato verabsäumt, andere EU-Mitglieder an Bord zu holen. Sie brauchen nicht nur den deutschen Sanktus, sondern auch jenen der Franzosen, Osteuropäer, Skandinavier. Deutschland an seiner Seite zu haben ist wichtig, reicht aber nicht aus.

Uns stehen also stürmische Zeiten bevor.

Bei den Krisen der vergangenen sechs Jahre ging es vor allem um die Wirtschaft. Die Krise des Jahres 2016 wird die Frage der nationalen Identitäten im Mittelpunkt haben. Und anders als bei Griechenland lässt sich dieses Problem nicht mit Geld lösen – Deutschland wird es daher deutlich schwerer mit Konsensbildung haben.

Sind Sie zuversichtlich, dass Merkel es schafft?

Ich würde mich nicht als optimistisch bezeichnen, glaube allerdings, dass Merkel weniger verwundbar ist als viele glauben. Aber es gibt auf jeden Fall ein Restrisiko. Sollte sich in Deutschland ein Anschlag wie in Paris ereignen, dann würde das ein politisches Erdbeben auslösen, das Merkel nicht überleben könnte.

Und ohne einen Anschlag?

Merkel muss auf jeden Fall bis zu den Landtagswahlen im März demonstrieren, dass sie die Flüchtlingskrise im Griff hat und für Ordnung sorgen kann. Die Wähler müssen bis dahin den Eindruck gewinnen, dass sich die Lage zum Besseren wendet. Ihr Zeitfenster ist klein. (la)

ZUR PERSON

Mujtaba Rahman leitet bei der britischen Ideenschmiede Eurasia Group die Europaabteilung, wo er sich vor allem mit wirtschaftspolitischen Fragen beschäftigt. Er studierte Internationale Beziehungen an der Columbia University in New York und Wirtschaftswissenschaften an der London School of Economics. Vor seinem Engagement für Eurasia Group war Rahman im britischen Finanzministerium, der Europäischen Kommission (Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen) und gemeinsam mit dem Starökonomen Jeffrey Sachs am Earth Institute der Columbia University tätig. Das Institut beschäftigt sich mit nachhaltigen Wirtschaftsmodellen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2015)

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