Cohn-Bendit: „Werden von der Geschichte bestraft“

Cohn-Bendit
Cohn-Bendit(c) IAN LANGSDON / EPA / picturedesk
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Der Publizist und frühere EU-Politiker der Grünen über den Umgang mit der Flüchtlingskrise und die Notwendigkeit einer Neuordnung der EU.

Die Presse: Europa ist Schwierigkeiten gewohnt, doch was wir im Zusammenhang mit den Flüchtlingen erleben, scheint eine neue Qualität der Krise zu sein. Sind existenzielle Sorgen um die EU berechtigt?

Daniel Cohn-Bendit: Es geht ans Eingemachte. Wir stoßen an die Grenzen von Europa, wie es heute existiert. Ich bin nicht der Ansicht, dass die Probleme unlösbar sind, aber besorgt, dass die handelnden Personen sie nicht anpacken wollen oder können.

Was wiegt schwerer: das Können oder das Wollen?

Es ist eine Frage des Wollens, weil das Können kompliziert ist. Man muss Hürden überwinden, doch wenn kein Wille da ist, schaffen wir es nicht. Als Mitterrand zu seinem Kumpel Kohl sagte: „Du kriegst die deutsche Wiedervereinigung nur, wenn sie mit einer Vertiefung Europas einhergeht“, war das Können bedingt durch die Notwendigkeit.

Anders als heute, wenn niemand will und niemand kann.

Ja.

Stattdessen wird überall die Solidarität herbeibeschworen. Und je lauter man von ihr redet, desto unsolidarischer wird im Hintergrund gehandelt.

Wir stoßen an die Grenzen nationalstaatlichen Denkens. Solidarität bringt keinen Profit mehr, sondern zusätzliche Schwierigkeiten. Vor zwei Jahren sagte Italiens Premier, Matteo Renzi, sein Land schaffe die Flüchtlingskrise nicht ohne Hilfe. Wer waren die Ersten, die Nein gesagt haben? Frankreich und Deutschland. Jetzt kommen sie und fordern Solidarität – und die anderen Regierungen reagieren wie Paris und Berlin damals.

Und was nun?

Uns fehlt ein Verständigungsmechanismus, damit alle einsehen, was zu tun ist. Da sich Ungarn mit seinem Grenzen-zu-Ansatz durchgesetzt hat, ist es für viele eine Verlockung zu sagen: „Das ist nicht mein Problem.“ Da ich nicht davon ausgehe, dass sich diesbezüglich etwas ändert, liegt es nun an Deutschland und Frankreich . . .


. . . wobei Frankreich selbst ja keinen ausgeprägten Willen an den Tag legt, Flüchtlinge aufzunehmen.

Nein, tut es nicht. Deswegen muss man darüber diskutieren, ob man Solidarität nicht mit dem europäischen Manna verknüpft: dem Agrar- und Strukturfonds der EU. Es kann nicht sein, dass die Polen oder Ungarn Solidarität bei der wirtschaftlichen Entwicklung einfordern, sich aber ab dem Moment, in dem andere Hilfe bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise brauchen, Nein sagen.

Business as usual geht also nicht mehr?

Wir müssen Europa neu ordnen und über eine Verfassung diskutieren. Wer diese Verfassung annimmt, ist Teil der EU.

Während die anderen . . .

. . . privilegierte Partner auf dem europäischen Markt sind. Das könnte Großbritannien sein, Ungarn, die Türkei. Diese Staaten wären lediglich Teil des Binnenmarkts.

Vorschläge zur Redimensionierung der EU kursieren seit einiger Zeit. Vergangene Woche wurde über die Schaffung einer Mini-Schengen-Zone laut nachgedacht.

Es geht mir um Grundsätzliches: Wir müssen die Frage beantworten, ob wir ein föderales Europa oder uns permanent im Kreis drehen wollen. Was Schengen anbelangt: Auch mit einer robusten Außengrenze ist das Problem nicht gelöst.

Aber kann die EU das Problem im Alleingang lösen?

Durchaus, wenn es eine europäische Armee und einen europäischen Grenzschutz gäbe, sowie substanzielle EU-Hilfe in den Herkunftsstaaten.

Angesichts der Verunsicherung in der Bevölkerung ist es illusorisch, auf einen europäischen Quantensprung zu hoffen.

Genau dieser Kontrollverlust, der alle verunsichert, ist das Ergebnis der Versäumnisse der vergangenen Jahre. Wir sind zu spät dran und werden von der Geschichte bestraft. Unsere Gesellschaften halten geschlossene Grenzen genauso wenig aus, wie sie es im Moment aushalten, dass so viele Flüchtlinge kommen. Es ist doch so, dass Europa, mit Ausnahme von Frankreich, ein demografisches Problem hat. Es müsste doch möglich sein, 20, 30 Mrd. Euro bereitzustellen, schrittweise drei, vier Mio. Flüchtlinge aufzunehmen und einen Qualifikationspakt mit den europäischen Arbeitgebern zu schnüren.

Sie haben jetzt etwas getan, was sich Angela Merkel bis dato nicht getraut hat: Sie haben die Zahl der Flüchtlinge benannt, die Europa aufnehmen soll.

Ja, genau.

Aber was den Populisten in Europa momentan so viel Zulauf beschert, ist die Weigerung, Obergrenzen zu setzen.

Drei oder vier Millionen sind jenseits dessen, worüber derzeit diskutiert wird.

Glauben Sie an eine Obergrenze?

Nein. Asyl ist ein Grundrecht, man kann es nicht quantifizieren.

Also stimmen Sie Merkel zu.

Deutschland ist in dieser Flüchtlingskrise nicht das Problem. Die Gesellschaft, um die wir uns Sorgen machen müssen, ist Frankreich. Die politischen Entscheidungsträger sind wie gelähmt vor Angst vor Marine Le Pen und dem rechtspopulistischen Front National. Sie sind paralysiert und ratlos. Frankreich braucht eine Große Koalition. Eine Koalition der Vernunft, von Sozialisten und Grünen bis hin zu Republikanern. Das traditionelle Links/Rechts-Schema ist überholt. Wir brauchen einen Pacte républicain, um die Gesellschaft zu stabilisieren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2015)

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