Eine Großmacht mit Gewissensbissen

(c) Marin Goleminov
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Deutschland in Europa. Das größte und einflussreichste Mitglied der EU steht am Scheideweg. Angesichts der vielen Krisen muss Berlin zwischen entschiedenem Engagement auf internationaler Bühne und dem Rückzug ins Biedermeier wählen.

Halb zog sie ihn, halb sank er hin – jener Fischer aus Johann Wolfgang von Goethes gleichnamiger Ballade, der von einer Nixe in die Tiefen des Wassers gelockt wurde. Die solcherart beschriebene Ambivalenz lässt sich auch in den europapolitischen Entwicklungen der vergangenen Jahre wiederfinden. Wer die Rolle Deutschlands in der Europäischen Union untersucht, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die größte und bevölkerungsreichste Wirtschaftsmacht Europas nolens volens zum Anführer der EU aufgerückt ist. In die Rolle des Primus inter pares ist Berlin mit einem gewissen Widerwillen geschlüpft, der sich in – mehr oder weniger nobler – Zurückhaltung manifestiert. Diese Scheu ist einerseits historisch verständlich, sorgt aber andererseits immer wieder für Irritationen – als beispielsweise im Jahr 2011 der damalige polnische Außenminister, Radosław Sikorski, Deutschland geradezu auf Knien anflehte, mehr zu unternehmen, um die Eurozone zu stabilisieren. Er habe mittlerweile mehr Angst vor Deutschlands Untätigkeit als vor deutschem Aktionismus, sagte Sikorski in Berlin – ein erstaunliches Bekenntnis angesichts der polnischen Erfahrungen mit deutscher Aggression im 20. Jahrhundert. Und die einflussreiche britische Wochenzeitung „Economist“ erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem Leitartikel vor wenigen Tagen gar zur „unersetzlichen Europäerin“, ohne die der Kontinent im Chaos versinken würde.

Hinter Frankreich

Wenn es heute also wieder heißt, am deutschen Wesen solle Europa genesen, dann ist dies in erster Linie der vorbildlichen geschichtlichen Aufarbeitung zu verdanken, die unter anderem dazu geführt hat, dass es in Deutschland – anders als in den meisten anderen Mitgliedstaaten – keine nennenswerte rechtspopulistische Gruppierung gibt. Während man es in Bonn und Berlin im Laufe der europäischen Integration zu einer Meisterschaft gebracht hat, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, hat sich die Angst vor Deutschland sukzessive verflüchtigt – wovon unter anderem das Bonmot zeugt, Deutschland brauche Frankreich, um seine Stärke zu verstecken, während Frankreich auf Deutschland angewiesen sei, um seine Schwäche zu kaschieren.

Von Gewissensbissen geplagt, hatte sich Deutschland lange Zeit darauf beschränkt, im Hintergrund dafür zu sorgen, dass es nicht über Gebühr strapaziert werde, und seinen europäischen Partnern ansonsten freie Hand zu lassen. Dass dieser Ansatz nicht mehr zeitgemäß ist, hängt mit mindestens drei Faktoren zusammen. Erstens ist die deutsche Bevölkerung von den Nachkriegsneurosen geheilt und somit „normaler“ geworden – ein Schlüsselereignis war in diesem Zusammenhang die Fußball-WM 2006, die als „deutsches Sommermärchen“ in die Geschichte einging und den Gastgeber weltweit ins positive Licht rückte. Zweitens wird Berlin verstärkt als europäischer Ansprechpartner Nummer eins wahrgenommen – sei es von Barack Obama, sei es von Wladimir Putin. Und drittens erzwingt das Ausmaß der Krisen, mit denen sich die EU heute konfrontiert sieht, Entschlossenheit seitens ihres potentesten Mitglieds. Deutschland ist schlicht und ergreifend zu groß, um von der Zuschauertribüne aus das Krisenspektakel zu verfolgen.

Die bisherigen Herausforderungen hat Merkel jedenfalls gut gemeistert. Was ihr Kritiker oft als Zaudern ausgelegt hatten, verhinderte in der griechischen Schuldenkrise den endgültigen Bruch zwischen Schuldnern und Gläubigern in der Währungsunion. Auch bei der Eindämmung Russlands nach deren Einmarsch in der Ukraine setzte die Bundeskanzlerin auf inkrementale, konsensfähige Maßnahmen und scheute große, melodramatische Gesten, wie man sie in manchen Hauptstädten Osteuropas gerne gesehen hätte.

Die jüngste, dritte Herausforderung – die Flüchtlingskrise – brachte den Wandel: Anstatt sich in der Kunst des Möglichen zu üben, erklärte Merkel Deutschland kurzerhand zum gelobten Land für Flüchtlinge aus Syrien. Wohin dieser Kurswechsel führen wird, ist noch nicht abzusehen. Klar ist jedenfalls, dass Deutschland und Merkel im Herbst 2015 an einer Weggabelung stehen – beide Pfade führen ins Ungewisse, beide bergen Gefahren.

Ohne Egoismen

Der erste Weg setzt die derzeitige Marschrichtung fort, er ist sozusagen der wahr gewordene Wunsch von Radosław Sikorski: Deutschland, das bis dato eine Großmacht mit beschränkter Haftung war, entledigt sich seiner anachronistischen Hemmungen und stürzt sich voller Elan ins europapolitische Geschehen. Im Idealfall könnte deutsche Führungsstärke den schwerfälligen Tanker Europa aus dem Hurrikan in ruhige Gewässer führen. Dieses Szenario setzt aber noble Zurückhaltung bei der Durchsetzung eigener Interessen voraus. Doch davon, dass Deutschland vor nationalen Egoismen nicht gefeit ist, zeugt unter anderem die Affäre um die Abgasvorschriften für Pkw. Dass die EU hier neue Toleranzschwellen eingeführt hat, hängt nicht zuletzt mit dem Einfluss der deutschen Automobilhersteller auf die Politik zusammen. Dabei hatte die EU-Kommission bereits im Jahr 2011 Hinweise auf Betrug bei Schadstoffwerten erhalten. Auch nachdem der Skandal um manipulierte Volkswagen-Motoren in den USA aufgeflogen war, wollte man Deutschland nicht überstrapazieren. Diese Vorgangsweise sollte jenen (südeuropäischen) EU-Mitgliedern zu denken geben, die Berlin im Zuge der Eurokrise seelenlose Paragrafenreiterei vorgeworfen hatten – ein Deutschland, das nur an sein Wohl denkt und sich dabei über alle Prinzipien hinwegsetzt, wäre vermutlich noch schlimmer als das bisherige Bestehen auf der Einhaltung gemeinsamer Spielregeln.

Der zweite Weg, den Deutschland einschlagen kann, führt indes in die Splendid Isolation. Die Versuchung, sich angesichts der vielen Krisen in einer nationalen Biedermeierstube gemütlich einzurichten, ist groß – auch, weil sie einem historisch eingeübten Reflex entspricht. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Mehrheit der Deutschen gemäß Umfragen nicht bereit ist, ihren Nato-Bündnispartnern im Ernstfall militärisch zu Hilfe zu kommen. Ein Kampfeinsatz gegen den Islamischen Staat an der Seite Frankreichs kommt für die Bundesbürger ebenso wenig infrage.

Welchen Pfad wird Deutschland beschreiten? Für Europa wäre zu wünschen, dass Berlin den Weg des regelgebundenen Engagements wählt. Lange Zeit konnte sich das Land im Windschatten der Geschichte darauf konzentrieren, seinen Wohlstand abseits der weltpolitischen Ersten Liga zu mehren. Diesen Luxus hat Merkel nicht mehr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2015)

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