EU/Türkei-Gipfel: Umstrittener Pakt mit Ankara

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Die EU bietet der Türkei für die Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise finanzielle Hilfen, die Visafreiheit ab Oktober 2016 und die Wiedereröffnung der Beitrittsverhandlungen.

Brüssel. Noch zehn Monate trennen die Türken von der visafreien Einreise in die EU – sofern bis dahin nicht mehr so viele Flüchtlinge nach Europa kommen wie bisher. Geht es nach den Vorstellungen der am gestrigen Sonntag in Brüssel versammelten europäischen Würdenträger, soll die Türkei für ihre Kooperation in der Flüchtlingskrise mit der Abschaffung der Visapflicht ab Oktober 2016 belohnt werden – neben einer Vielzahl anderer Zuckerln.

Regelmäßige Gipfeltreffen

Der europäische Vorschlag sieht „Gipfeltreffen in geeigneter Zusammensetzung“ vor, die zweimal im Jahr abgehalten werden sollen – als „Plattform für die Bewertung der Entwicklung der Beziehungen [...] und für die Erörterung internationaler Fragen“, wie es im Entwurf der gemeinsamen Erklärung heißt.

Eröffnung weiterer EU-Beitrittskapitel

Bereits am 14. Dezember soll der Startschuss für die Verhandlungen über Kapitel 17 (Wirtschaft und Währung) fallen, die EU-Kommission soll weiters im ersten Quartal 2016 weitere sieben Kapitel – „unbeschadet der Position der Mitgliedstaaten“ – für die Verhandlungen mit Ankara vorbereiten. Diese Verhandlungen sind nicht zuletzt aufgrund der Menschenrechtslage in der Türkei und des Widerwillens einzelner EU-Mitglieder jahrelang auf Eis gelegen.

Die bereits angesprochene Visaliberalisierung

Die Visaliberalisierung wird seitens der EU davon abhängig gemacht, ob Ankara das Rückübernahmeabkommen mit den Europäern „ab Juni 2016 in vollem Umfang“ anwendet. Soll heißen: Ohne Rücknahme sogenannter irregulärer Migranten, die über die Türkei nach Griechenland gelangen, gibt es keinen Visa-Deal.

Finanzielle Unterstützung

Über konkrete Beträge der EU-Mitglieder wollte die EU nach Worten von Kommissionschef Jean-Claude Juncker nicht am Sonntag, sondern „in den nächsten Tagen und Wochen“ sprechen – wohl auch, um sich peinliche Streitereien vor den Augen des türkischen Premiers, Ahmet Davutoğlu, zu ersparen. In der Abschlusserklärung war von „anfänglich“ drei Milliarden Euro die Rede, mit dem Geld sollen Flüchtlinge in der Türkei (derzeit sind es rund zwei Millionen Menschen) unterstützt werden. Die Brüsseler Behörde will 500 Millionen Euro bereitstellen und hat Mitte November für die restlichen zweieinhalb Milliarden einen Zahlungsschlüssel erstellt, über den seither hinter den Kulissen heftig gestritten wird.

Geordnete Umsiedlung nach Europa

Ankara will, dass eine möglichst hohe Zahl von Syrern aus der Türkei nach Europa gebracht wird – im Vorfeld des Treffens wurde die Zahl von 400.000 Personen kolportiert, die in mehreren Mitgliedstaaten untergebracht werden sollen. Am Sonntag wurden keine konkreten Verpflichtungen fixiert – die Rede war nur von einer fairen Lastenteilung.

Ist die Flüchtlingskrise damit überwunden? Einer europäisch-türkischen Kooperation, die diesen Namen wirklich verdient, stehen mehrere Hindernisse im Weg. Da wäre zum einen die immer prekärer werdende Menschenrechtslage in der Türkei – vergangene Woche wurden zwei weitere Reporter verhaftet. Ein Pakt mit dem immer autokratischer agierenden Staatschef, Recep Tayyip Erdoğan, – so sehr er auch aus deutscher Perspektive wünschenswert wäre – droht die Glaubwürdigkeit der EU vollends zu beschädigen. In Ankara kostet man indes die Hilflosigkeit der Europäer voll aus: Dass Erdoğan nicht selbst zum Gipfel kam, sondern seinen Premier schickte, wurde in Brüssel als gezielter Affront gedeutet. Hinzu kommt, dass die EU in der Türkei-Frage alles andere als einig ist. Während Bundeskanzlerin Angela Merkel so gut wie alles tun würde, damit Erdoğan ihr das Flüchtlingsproblem abnimmt, wollen mehrere EU-Mitglieder auf Distanz bleiben. Für die Skeptiker sprach gestern Ratspräsident Donald Tusk, als er sagte, die Sicherung der EU-Außengrenzen habe oberste Priorität, sonst könne die Schengen-Zone nicht aufrechterhalten werden. Soll heißen: Die EU soll sich um die Lösung des Problems selbst kümmern und sie nicht an Drittstaaten auslagern. Wer glaube, die Türkei werde im Alleingang die Migrationskrise lösen, sei „naiv“, so Tusk.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.11.2015)

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