Nach der Entmachtung der Verfassungsrichter und der Einflussnahme auf öffentlich-rechtliche Medien prüft Brüssel, ob die neue polnische Regierung in ausreichendem Maße europäische Grundwerte vertritt. Ein Überblick.
Brüssel. Am Mittwoch berät die EU-Kommission über Polen. Es ist der erste Schritt in einem möglichen Sanktionsverfahren wegen rechtsstaatlicher Probleme. Worum es geht:
1 Was wird Polen überhaupt vorgeworfen?
Die neue polnische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) verfügt seit den Wahlen im vergangenen Herbst über eine absolute Mehrheit im Parlament. Ihr wird vorgeworfen, dass sie diese nutzt, um Einfluss auf Justiz und Medien zu nehmen. Umstritten ist eine Reform des Verfassungsgerichts. Dadurch wurden die Möglichkeiten der Richter, die Gesetzgebung der Regierung zu kontrollieren, deutlich eingeschränkt. Künftig ist eine Zweidrittelmehrheit der Richter notwendig, um ein neues Gesetz wegen Verfassungswidrigkeit abzulehnen. Die PiS hat gleichzeitig einen Teil der Richter durch eigene Kandidaten ersetzt. Nach einem ähnlichen Muster wurde ein Mediengesetz verabschiedet, das es der Regierung ermöglicht, selbst die Führungsmannschaft öffentlich-rechtlicher Medien zu bestimmen. Bereits wenige Tage nach dem Inkrafttreten wurde Jacek Kurski neuer Chef des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders TVP. Er ist ein PiS-Politiker und Journalist. Auch weitere Posten wurden im Sinne der Regierung neu besetzt. Ein Medienrat, in dem die PiS die absolute Mehrheit hat, ersetzt das bisherige Kontrollgremium für alle öffentlich-rechtlichen Medien. Und auch auf Privatmedien will die Regierung nun mehr Einfluss nehmen.
2 Muss Polen mit Sanktionen rechnen?
Im schlimmsten Fall droht eine Suspendierung des Stimmrechts in der EU. Aber so weit dürfte es nicht kommen. Die EU-Kommission kann bei einer Verletzung der Grundwerte der Union einen dreistufigen Mechanismus in Gang setzen. Zuerst werden die Probleme definiert und die Regierung aufgefordert, die Probleme selbst zu bereinigen. Geschieht dies nicht, kann die Kommission konkrete Maßnahmen vorschlagen. Erst wenn auch diese nicht ergriffen werden, kann sie ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags einleiten, das zu einer Suspendierung des Stimmrechts führen kann. Um dies in Gang zu setzen, müssen im Europaparlament zwei Drittel der Abgeordneten zustimmen. Im Rat ist eine Vier-Fünftel-Mehrheit notwendig.
3 Wie argumentiert die polnische Regierung?
Der polnischen Regierung geht es nach eigenen Aussagen um die Wiedergutmachung eines Unrechts, das die Vorgängerregierung begangen haben soll. Auf das Verfassungsgericht bezogen argumentiert PiS, dass die im November abgewählte Bürgerplattform (PO) im Vorfeld versucht hätte, das Richterkollegium mit Sympathisanten zu besetzen. In der Tat hatte die PO-Regierung 2015 insgesamt fünf Richterposten neu besetzt – zwei Besetzungen wurden allerdings vom Gericht selbst für verfassungswidrig erklärt. Was das Mediengesetz anbelangt, werfen PiS-Politiker dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk seit Jahren Parteilichkeit vor – und obendrein einigen privaten Medienkonzernen ökonomisch begründete Deutschland-Hörigkeit.
4 Wer kritisiert Warschau? Wer verteidigt die polnische Regierung?
Dass die prominentesten Brüsseler Kritiker der neuen Regierung aus Deutschland stammen, ist Wasser auf die Mühlen der polnischen Nationalpopulisten, die Stimmung gegen den großen Nachbarn machen. So warf Martin Schulz, der Präsident des Europaparlaments, der PiS vor, eine „gelenkte Demokratie“ nach dem Vorbild Russlands schaffen zu wollen, während der für digitale Angelegenheiten zuständige Kommissar Günther Oettinger Warschau mit einem EU-Verfahren drohte. Besorgt zeigte sich auch ein Niederländer – und zwar Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans – sowie der Luxemburger Außenminister, Jean Asselborn, der Warschau Sanktionen androhte, sollte die neue Regierung ihren Kurs nicht korrigieren.
Der wohl wichtigste Alliierte der neuen Regierung ist der ungarische Premierminister, Viktor Orbán. Vergangene Woche stattete Orbán Polen einen Besuch ab, um mit PiS-Chef Jaroslaw Kaczyński über „die Gesamtheit der internationalen Probleme“ zu diskutieren. Ungarns Premier machte bereits klar, dass er jeden Versuch, Polen auf EU-Ebene zu sanktionieren, verhindern werde. Weitere potenzielle Freunde (die sich allerdings noch nicht so dezidiert deklariert haben) hat die neue polnische Regierung in Prag und Bratislava, wo ebenfalls EU-Skeptiker das Sagen haben. Befürchtet wird, dass die sogenannte Visegrád-Gruppe (Tschechien, Slowakei, Ungarn, Polen) einen neuen Kurs gegen die Länder Westeuropas einschlagen könnte.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.01.2016)