Die Umrisse eines Deals liegen vor. Noch ist aber nicht sicher, ob die 27 restlichen EU-Regierungen dem Papier zustimmen.
Straßburg/Brüssel. Wann immer der Ernst der Lage es erforderlich macht, greift Donald Tusk gern auf ein klassisches Zitat zurück. War es auf dem Höhepunkt der Griechenland-Krise der altrömische Orator Cicero, dessen Credo „Sparen ist eine gute Einnahme“ der Ratspräsident an die renitente Regierung in Athen richtete, so bediente er sich am gestrigen Dienstag bei Hamlet, um den Stand der Dinge bei den Verhandlungen mit Großbritannien zu beschreiben: „Zusammensein oder nicht sein, das ist hier die Frage“, verkündete Tusk frei nach William Shakespeare über den Kurznachrichtendienst Twitter. Und diese Frage muss bis zum 18. Februar beantwortet werden – an diesem Tag treffen sich die Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel, um einen Deal mit dem britischen Kollegen David Cameron zu besiegeln.
Die Umrisse dieses Deals liegen seit Dienstag vor. Cameron hat seine Forderungen nach einer Nachjustierung des britisch-europäischen Verhältnisses in vier sogenannte Körbe gepackt, von denen der letzte das umstrittene Thema Sozialleistungen für EU-Ausländer enthält – bekanntlich will der britische Premier diese für Neuankömmlinge vom europäischen Festland für eine mehrjährige Übergangsfrist limitieren. Dieses Zugeständnis wird in dem 16-seitigen Entwurf in der Tat gemacht – wenn auch in einem knapp bemessenen Rahmen.
Außergewöhnliche Belastung
Demnach darf der Rat auf Vorschlag der EU-Kommission einem Mitgliedstaat das Pouvoir erteilen, ausländischen Arbeitnehmern die Sozialleistungen für eine Dauer von maximal vier Jahren vorzuenthalten. Allerdings muss diese Maßnahme mit einer außergewöhnlichen Belastung des Sozialsystems begründet werden – nach welchem Maßstab, steht noch nicht fest. Und diese Begründung muss für die Brüsseler Behörde hieb- und stichfest sein, damit sie grünes Licht geben kann. Damit ist klar, dass die britische Regierung – anders als von Cameron ursprünglich gefordert – nicht im Alleingang Sozialleistungen kürzen darf. Detail am Rande: Nach Ansicht von Tusks Juristen müssen die EU-Verträge für diese Maßnahme nicht aufgeschnürt werden – der Entwurf sieht lediglich die Novellierung von zwei Gesetzestexten aus den Jahren 2004 und 2011 vor.
Anders verhält es sich mit den Körben eins (Wirtschaft) und drei (Souveränität): Beide Punkte sind unter der Prämisse formuliert, dass die EU-Verträge bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit adaptiert werden. Beim ersten Punkt geht es um die Feststellung, dass der Euro nicht die Währung der gesamten EU ist. Euro-Outsider sollen demnach weder eine verstärkte Zusammenarbeit innerhalb der Eurozone behindern noch von den Mitgliedern der Währungsunion diskriminiert werden. Punkt drei hält fest, dass das EU-vertraglich festgehaltene Ziel einer „immer engeren Union der Völker Europas“ mit „unterschiedlichen Pfaden der Integration“ kompatibel ist und nicht zwangsläufig die Übertragung weiterer Kompetenzen an die EU bedeuten muss.
„Noch nichts vereinbart“
Gewährleisten soll dies eine Klausel, derzufolge 55 Prozent der nationalen Parlamente einen Gesetzesvorschlag der Kommission verwerfen dürfen. Die Krux: Bei dieser Abstimmung hat jedes nationale Parlament genau zwei Stimmen – ein britisches Votum wiegt also genauso schwer wie die Stimme Maltas oder Sloweniens. London müsste also mindestens 15 Verbündete finden, um einen unliebsamen Vorschlag zu eliminieren. Noch ist allerdings nicht klar, ob der gestrige Entwurf tatsächlich ratifiziert wird. Denn „nichts ist vereinbart, bis alles vereinbart ist“, wie Tusk am Dienstag formulierte. Am kommenden Freitag bricht Cameron nach Warschau auf, um die polnische Regierung auf seine Seite zu bringen – in Großbritannien arbeiten Hunderttausende Polen. Zeitgleich werden in Brüssel die „Sherpas“ (Chefverhandler) der 28 EU-Mitglieder versuchen, vorhandene rechtliche Lücken zu stopfen. Ob Tusks Angebot ausreichen wird, um die britischen Wähler vom Verbleib in der EU zu überzeugen, ist offen. Während Nigel Farage von der europafeindlichen UK Independence Party von einem „erbärmlichen Deal“ sprach, erwarteten Regierungsvertreter in London noch „intensive Diskussionen“.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.02.2016)