Großbritannien: "Europa hat sein wahres Gesicht gezeigt"

An Union flag is seen fluttering next to the Big Ben in London
An Union flag is seen fluttering next to the Big Ben in LondonREUTERS
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Großbritannien will die Beziehung zur EU ein für alle Mal regeln. Die Debatte zeigt ein tief gespaltenes Land, das seinen Platz in der Welt sucht.

Mit einer Volksabstimmung über den Ausstieg oder Verbleib seines Landes in der EU wollte der britische Premierminister, David Cameron, die Europa-Frage ein für alle Mal klären. Nach Vorstellung des vorläufigen Verhandlungsstands zwischen London und Brüssel in dieser Woche droht er nun als jener Regierungschef in die Geschichte einzugehen, der Großbritannien aus der EU herausgeführt hat. Die jüngste Umfrage sieht die Befürworter eines Austritts mit satten neun Prozentpunkten vorn.

Die Briten zeigen sich offensichtlich „not impressed“ von dem Geschick ihres obersten Verhandlungsführers: Nur 22 Prozent sind der Meinung, Großbritannien habe ein gutes Ergebnis ausgehandelt. 56 Prozent meinen, die geplanten Änderungen gingen nicht weit genug; nur 17 Prozent betrachten sie als angemessen.

Viel ist dieser Tage vom Zauberlehrling zu lesen. Wenn Cameron den Briten verspricht, „Hand aufs Herz, ich kann sagen, dass ich meine Wahlkampfversprechen eingelöst habe“, hat er bis zu dem am 23. Juni erwarteten Referendum noch eine Menge Aufklärungsarbeit zu leisten. Vorerst weht ihm von der eigenen Partei, den EU-Gegnern und der Boulevardpresse jede Menge Kritik um die Ohren. „Ich bin ehrlich erstaunt, wie flach, leer und inhaltslos das Papier ist“, sagt Douglas Carswell, einziger Unterhausabgeordneter der rechtspopulistischen United Kingdom Independence Party (UKIP), im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“.

Streitpunkt Einwanderung.
Tatsächlich ist von Camerons Ankündigung aus dem Jänner 2013 über eine umfassende Neuordnung des Verhältnisses zwischen Großbritannien und der EU nicht viel übrig geblieben. Das derzeitige Verhandlungsergebnis ist vor allem dafür bemerkenswert, was es nicht behandelt: die Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofs, die Gemeinsame Agrarpolitik, die Gültigkeit der Europäischen Menschenrechtscharta, die europäischen Arbeitsbestimmungen – all diese Themen hat Cameron in der Vergangenheit aufgeworfen und prompt wieder fallen gelassen.

Stattdessen hat London seine Forderungen auf vier Themenbereiche reduziert: Souveränität, Wettbewerbsfähigkeit, Schutz der Nicht-Euroländer und Einwanderung. Nur Letzteres spielt eine Rolle. Nach der starken Zuwanderung in den Jahren nach der EU-Erweiterung 2004, als Großbritannien auf Übergangsbestimmungen verzichtet hat, „haben wir einen Punkt erreicht, an dem die Mehrheit der Menschen sagt: ,Wir können so nicht weitermachen‘“, wie der Meinungsforscher Andrew Cooper schildert. Als früherer Director of Strategy hat Cooper immer noch Premier Camerons Aufmerksamkeit.

Die in Aussicht stehende Vereinbarung mit der EU sieht die Einführung einer „Notbremse“ vor, die es Großbritannien erlauben würde, EU-Arbeitnehmern in den ersten vier Jahren den Zugang zu Sozialleistungen einzuschränken und gemäß ihrer Einzahlungen in das Sozialsystem zu staffeln. Noch werden Details verhandelt, doch klar ist: Die Maßnahme hat höchstens symbolischen Wert. Nach offiziellen Angaben bezogen zuletzt mit 84.000 nur knapp 20 Prozent der EU-Arbeitnehmer in Großbritannien die steuerlichen Vergünstigungen, die ihnen bisher zur Aufbesserung des Mindestlohns zustehen, während 4,6 Millionen Briten diese Leistungen in Anspruch genommen haben.

Schon jetzt zahlen Ausländer mehr in das britische Sozialsystem ein, als sie herausbekommen. Die Einsparungen durch diese „Notbremse“ und die geplante Bindung der Höhe von Kinderbeihilfe an das Durchschnittseinkommen in den Herkunftsländern sind marginal: Die Anti-Einwanderungsgruppe Migration Watch spricht von zehn Pfund pro Woche für ausländische Arbeitnehmer. Das sind Peanuts.

Die Änderungen werden daher das Einwanderungsproblem Großbritanniens nicht lösen. Sie werden allein dafür sorgen, dass der Aufenthalt im Land unattraktiver wird. Der Ökonom Jonathan Portes vom National Institute of Economic and Social Research meint: „Migranten kommen nicht wegen Sozialleistungen zu uns, sondern, weil sie hier Arbeit finden können.“

Die britische Wirtschaft muss sich also um den Zustrom billiger Arbeitskräfte auch künftig keine Sorgen machen. Sie wächst schneller als jene der EU-Partner und verzeichnet aktuell mit 5,2 Prozent den niedrigsten Arbeitslosenstand seit zehn Jahren. „Großbritannien ist nicht das Problem. Europa ist es“, sagt Phillip Blond, Direktor des Londoner Thinktanks Res Publica. „Wir sind wirtschaftlich das agilste Land Europas, unsere Bevölkerung wächst, und 2050 werden wir die mit Abstand führende Macht in Europa sein.“

Selbst der erklärte Pro-Europäer Blond kritisiert Europa und die EU für undemokratische Entscheidungsabläufe, die Macht der Verwaltung und seine Wirtschaftspolitik („Der Euro bringt Europa um“). Die Mitgliedschaft in der EU sei für Großbritannien ein Hemmschuh, kein Antrieb. Drastischer formuliert es Carswell: „Wir haben uns an einen Leichnam gekettet.“

Die Tatsache, dass die meisten Briten entweder ein indifferentes oder negatives Bild von Europa und der EU haben, führt Blond darauf zurück, „dass wir nie eine positive Vision entwickelt“ haben. 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, 60 Jahre nach der Suez-Krise und 40 Jahre nach der ersten britischen Volksabstimmung über Europa gilt immer noch das Wort des früheren US-Außenministers Dean Acheson: „Großbritannien hat ein Weltreich verloren und keine neue Rolle gefunden.“ Das Land mäandert zwischen Anti-Europäismus und Pro-Amerikanismus und fühlt sich in seinen eigenen Grenzen nicht mehr zu Hause.

Großbritannien und die EU, das war nie eine Liebesbeziehung. Es war eine Zweckehe, wahrscheinlich ein Missverständnis. Die Anhänger der Volksabstimmung meinen, dass die EU heute mit der Gemeinschaftswährung Euro und der politischen Union etwas fundamental anderes ist als jene Wirtschaftsgemeinschaft, der man 1973 beigetreten sei. „Europa hat sein wahres Gesicht gezeigt“, meint der Tory-Abgeordnete John Redwood. Auf die Frage, ob die EU nicht auch auf Werte gegründet sei, höhnt sein UKIP-Kollege Carswell: „Glauben Sie wirklich, dass es eine Armee von privilegierten, überbezahlten, steuerfreien Brüsseler Bürokraten ist, die Deutschland davon abhält, in Frankreich einzumarschieren?“

Unter den EU-Gegnern gilt der 44-jährige Abgeordnete, der bis 2014 noch für die Konservativen im Parlament saß, als einer der gemäßigten Vertreter. Er ist ein glühender Anhänger offener Grenzen. Dass der Ausgang der Volksabstimmung längst nicht entschieden ist, haben die EU-Befürworter auch der Tatsache zu verdanken, dass die Gegner heillos zerstritten sind. Nach letzter Zählung werben bereits drei konkurrierende Gruppen für den EU-Ausstieg.

Wichtiger aber: Während sich Befürworter und Gegner trefflich über tatsächliche oder angebliche Fakten streiten – sind wirklich 3,5 Millionen Jobs von der EU-Mitgliedschaft abhängig; werden 70 Prozent der britischen Gesetze in Brüssel gemacht; schützt sich ein Staat in der heutigen Bedrohungslage besser allein oder in Gemeinschaft? –, kommen die EU-Gegner um eines nicht herum: „Niemand kann wissen, was der Austritt letztlich bedeuten würde“, sagte Cooper. „Es ist eine äußerst riskante Option, und ich glaube nicht, dass die Menschen dazu bereit sind.“

Keine Sorge.
In diesem Sinn ist die britischen Volksabstimmung die Antwort auf eine Frage, die niemand gestellt hat. Hinter Fragen der wirtschaftlichen Sicherheit und globalen Bedrohungen wie Terrorismus steht die EU-Mitgliedschaft auf der Sorgenliste der Briten in der monatlichen Erhebung des Instituts Ipsos-Mori nicht einmal unter den Top Ten. „Die Mehrheit ist sich nicht einmal bewusst, dass wir ein Referendum haben werden“, sagt Cooper.

Stattdessen ist es weitgehend eine innerparteiliche Auseinandersetzung in den Reihen der Tories, die das Land zu einer Entscheidung über seine Zukunft zwingt. Die Auseinandersetzung zeigt ein tief gespaltenes Land. Das London der Millionäre, „in dem die ganze Welt leben will“ (Carswell), steht Orten wie dem nordenglischen Scunthorpe gegenüber, wo soeben das letzte Stahlwerk schließt. Verunsicherte Arbeitnehmer, die gerade acht Jahre sinkende Realeinkommen hinter sich haben, stehen einer „von Selbstbewusstsein brummenden“ (Blond) urbanen neuen Mittelklasse gegenüber, die gerade die Industriegroßmacht Großbritannien in eine Kulturgroßmacht verwandelt.

Ohne Europa ist das undenkbar. Für beide Seiten. Die Briten werden wohl nie begeisterte Europäer werden, aber vor die Frage gestellt, ob sie bleiben oder gehen wollen, erwartet Meinungsforscher Cooper: „Das Herz mag gehen wollen, aber der Kopf wird wohl Ja zum Bleiben sagen.“

Fakten

Referendum. Der britische Premier, David Cameron, will seine Landsleute vermutlich noch in diesem Jahr, aber spätestens Ende 2017 über den Verbleib Großbritanniens in der EU abstimmen lassen. Laut einer jüngsten Umfrage sind derzeit 45 Prozent für den EU-Austritt (Brexit), 36 Prozent dagegen.

EU-Deal. Cameron hat mit der EU ein Reformpaket ausgehandelt, mit dem er einen Austritt verhindern will. Die Union will bei dem Gipfeltreffen am 18. und 19. Februar darüber entscheiden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2016)

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