„10.000 Flüchtlingskinder sind verschwunden“

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Der Leiter der EU-Grundrechteagentur, O'Flaherty, warnt, dass Europa in der Flüchtlingskrise seine humanitäre Vorreiterrolle verliert. Hinweise, dass durch Asylwerber die Gewalt gegen Frauen deutlich zunimmt, sieht er nicht.

Die Presse: Die EU-Grundrechteagentur hat die Menschenrechtslage der ankommenden Flüchtlinge untersucht. Zu welchem Ergebnis kamen Sie?

Michael O'Flaherty: Wir erleben ein unheimliches Drama. Massen von Menschen benötigen Hilfe und Sicherheit. Und die Menschenrechte der Neuankömmlinge müssen respektiert werden – von dem Moment an, in dem sie aus dem Meer gerettet werden, durch die Registrierungsprozduren bis hin zur Integration in die Gesellschaften der EU. Wichtig sind auch die Umstände für jene Menschen, die zurückgeschickt werden müssen. Ein Asylsystem ist letztlich nur so gut, wie es auch für eine angemessene Rückführung von abgewiesenen Personen sorgt.

In einem kürzlich veröffentlichten Bericht wurde auf die Situation in Österreich eingegangen, auf Probleme bei der Übersetzung und bei der verspäteten Betreuung unbegleiteter Kinder.

Die Betreuung der unbegleiteten Kinder ist tatsächlich in ganz Europa ein großes Problem. Neue Zahlen von Europol zeigen, dass mindestens 10.000 zugewanderte Kinder verschwunden sind. Sie wurden registriert, aber sind nirgendwo mehr aufgetaucht. Besonders ernst ist die Situation dort, wo die Kinder erstmals auf EU-Boden ankommen. Es fehlt oft an einer sofortigen Übernahme in eine funktionierende Betreuung. Hier muss rascher gehandelt werden. Die Kinder müssen sofort übernommen und in Länder gebracht werden, wo sie willkommen sind. Wir müssen darauf achten, dass wir Fällen von sexuellem Missbrauch von Kindern sofort entgegentreten und dies konsequent verhindern. Derzeit fehlt es zwar nicht am Willen, wohl aber an den notwendigen Ressourcen, da viele Staaten von der Größe dieser Fluchtwelle überfordert sind. Wir sind immer ein paar Schritte hinter dem her, was eigentlich notwendig wäre, um die humanitäre Situation abzusichern.

Einige EU-Regierungen, darunter auch die österreichische, versuchen, die Regeln und Rahmenbedingungen für Flüchtlinge zu verschärfen, um den Strom zu bremsen. Sehen Sie deshalb eine Gefahr, dass Europa seine Vorreiterrolle bei Menschenrechten verlieren könnte?

Wenn wir diese Vorreiterrolle verlieren, verlieren wir unsere Identität. Die Verschärfung der rechtlichen Rahmenbedingungen allein ist nicht das Problem. Es ist eher der Versuch, Menschen, die Sicherheit benötigen, nicht mehr aufzunehmen. Das Ausmaß der Fluchtwelle ist zweifellos groß, aber historisch gesehen, müsste dieser Kontinent dies bewältigen können. Nämlich dann, wenn die Herausforderung gemeinsam angegangen wird. Derzeit trägt aber eine kleine Zahl von Ländern fast die gesamte Verantwortung.

Die Grundrechteagentur hat vor einigen Monaten einen Bericht über Antisemitismus und andere Formen der Diskriminierung und des Rassismus herausgegeben. Sehen Sie Anzeichen, dass sich solche Phänomene durch die Migrationswelle verstärken könnten?

Antisemitismus und andere Formen von ethnischer und religiöser Diskriminierung sind inakzeptabel stark in Europa vorhanden. Wir wissen, dass es hier immer wieder Wellen gibt, in denen dies zunimmt. Das hängt von vielen Faktoren ab. Dagegen hilft gewiss eine viel bessere Bildung. Wir müssen aber auch stärker gegen Hassreden und Hasspostings vorgehen. In vielen EU-Ländern gibt es aber bisher keine ausreichenden Mechanismen, die entsprechenden Daten zu sammeln, um das Problem transparent aufzuzeigen und effektiv zu bekämpfen. Wir als Agentur versuchen, hier in Zusammenarbeit mit den EU-Mitgliedsländern eine Anleitung zu geben.

Die deutsche Polizei zählt immer mehr Übergriffe auf Asylheime. Ist das ein Indiz dafür, dass die Gewalt gegen Zuwanderer steigt?

Ich bin hier sehr besorgt. Kriminalität gegen Migranten ist um nichts eher zu rechtfertigen als Kriminalität gegen Vertreter der eigenen Bevölkerung. Auch die Ereignisse in Köln haben dazu geführt, dass einige die Meinung verbreiten, dass Migranten nur Kriminalität und Gefahren für die Gesellschaft mit sich bringen würden. Wir haben kürzlich eine Studie über Gewalt gegen Frauen erarbeitet. Dabei wurde deutlich, dass dieses Problem schon lang in Europa existiert. Ein hoher Anteil der Fälle der Gewalt gegen Frauen wird von Ehemännern und Partnern verübt und spielt sich in den privaten Wohnungen ab, nicht auf der Straße. 22 Prozent der insgesamt 42.000 Frauen in der ganzen EU, die wir befragt haben, haben angegeben, körperliche oder sexuelle Gewalt in der Partnerschaft erlebt zu haben. 43 Prozent sind psychischer Gewalt durch den Partner ausgesetzt. Die Behauptung, dass die Ankunft der Asylwerber das Problem der Gewalt gegen Frauen so deutlich verstärkt hätte, spricht gegen alle vorhandenen Daten.

Sie haben die Vorfälle in Köln angesprochen. Viele Vorbehalte entstehen aus der Angst, die Migranten könnten die Gesellschaft negativ verändern, die Kultur verändern. Verstehen Sie diese Vorbehalte?

Nicht wirklich. Aber die Öffentlichkeit muss informiert werden, um sich dann an Fakten halten zu können. Und diese Fakten sprechen gegen solche Befürchtungen. Wer sind eigentlich diese Migranten? Sie sind zu einem überwiegenden Teil ganz normale Menschen wie wir selbst, die aus Ländern wie Syrien geflohen sind, und zwar, weil sie fliehen mussten. Wir sollten ihnen mit jener Generosität und jenem Respekt entgegentreten, die unserer Tradition und unseren Werten entsprechen.

ZUR PERSON

Michael O'Flaherty ist seit Dezember 2015 Leiter der EU-Grundrechteagentur (FRA) in Wien. Der erfahrene Menschenrechtsanwalt war Vertreter seines Landes im UN-Menschenrechtskomitee. Der ehemalige katholische Priester stammt aus Galway, Irland. [ FRA ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.02.2016)

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