„Sollen die Leute von Grenze zu Grenze durch Europa wandern?“

Aydan Özoğuz
Aydan Özoğuz(c) Bloomberg (Krisztian Bocsi)
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Aydan Özoğuz, Migrationsbeauftragte der deutschen Bundesregierung, hält nationale Einzelgänge wie die österreichische Obergrenze für Flüchtlinge für falsch.

Die Presse: Die Flüchtlingszahlen werden im Frühling ansteigen. Und Deutschland hat nach wie vor keine Obergrenze definiert. Wie lang kann das noch gut gehen?

Aydan Özoğuz: Österreich hat eine Obergrenze eingeführt, sagt uns aber nicht, was passiert, wenn diese erreicht ist. Sollen die Leute von Grenze zu Grenze durch Europa wandern? Ich halte es für einen großen Fehler, wenn jeder EU-Mitgliedstaat anfängt, Politik im Alleingang zu machen. Gerade jetzt brauchen wir eine gemeinsame europäische Antwort auf die Herausforderungen durch die hohen Flüchtlingszahlen.

Momentan schaut es nicht nach einer solchen Einigung aus – wie lang kann Deutschland noch den Quasi-Sololauf durchhalten?

Die Bundesregierung arbeitet mit Hochdruck daran, einige weitere europäische Länder zur Erfüllung unserer gemeinsamen Verantwortung zu bewegen. Immerhin wollen wir ja eine Union sein. Ich halte das auch gar nicht für so aussichtslos. Gleichzeitig sind wir dabei, die Flüchtlinge ordentlich zu registrieren und die Verfahren schneller abzuwickeln. Nicht alle kommen aus Kriegsgebieten und nicht alle werden Asyl bekommen.

Man merkt auch schon, dass die Stimmung zu kippen beginnt: mehr Gehässigkeit, mehr Zulauf zu Populisten.

Gerade in solchen Zeiten hilft es ja nicht, wenn EU-Mitgliedstaaten wie Schweden, Österreich oder Deutschland so viel helfen und andere Mitgliedstaaten dagegen so tun, als hätten sie damit nichts zu tun. Je stärker gegeneinander gearbeitet wird, desto mehr Zulauf für Populismus wird es geben.

Es scheitert aber zunehmend an der Akzeptanz der Flüchtlinge in Deutschland.

So pauschal ist das nicht richtig. Es gibt natürlich die Sorge, was die Aufnahme der Flüchtlinge für unser Land bedeutet. Aber zugleich haben wir in Deutschland im vergangenen Jahr eine positive Überraschung erlebt. Wir waren gar nicht darauf vorbereitet, dass sich Zigtausende Menschen um Flüchtlinge kümmern würden. Und wer Flüchtlinge kennenlernt, ihre Geschichten hört, bekommt eine andere Einstellung. Brandanschläge und Menschenverachtung sind sichtbar, stehen aber nicht für die Mehrheit in unserer Bevölkerung.

Nur kam nach der positiven Welle die Silvesternacht in Köln mit Übergriffen auf Frauen.

Die Übergriffe von Köln haben die Stimmung vergiftet. Dagegen müssen wir jetzt ankämpfen. Denn auch wenn es einige Hundert Kriminelle gewesen sein könnten, darf man deswegen nicht eine Million Flüchtlinge unter Generalverdacht stellen.

Gerade wurde im Rahmen des Asylpakets II über Familiennachzug diskutiert – wie weit soll der gehen?

Ein anerkannter Asylbewerber muss derzeit bis zu zwölf Monate warten, bis seine Angehörigen überhaupt erst einen Termin bei einer Auslandsvertretung bekommen. In der Praxis ist das gerade die größte Hürde. Die Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Geschützte betrifft zahlenmäßig nicht viele Menschen. Aber unter integrationspolitischen Gesichtspunkten ist es richtig, dass Familien schneller integriert werden können.

Beim Asylpaket II wurde auch über den Familiennachzug bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen diskutiert – das ist doch eine symbolische Debatte, es geht um nicht einmal 200 Fälle.

Grundsätzlich ist schon wichtig, die unbegleiteten Kinder und Jugendlichen gesondert zu betrachten. Sie dürfen nicht einfach unter die Regelungen von Erwachsenen fallen. Es ist gut, dass es für sie eine Härtefall-Regelung gibt.

Wie sinnvoll wäre es, mehr Flüchtlinge in strukturschwache Regionen, etwa im Osten Deutschlands, zu bringen, um diese Regionen zu beleben?

Wir haben den Königsteiner Schlüssel, nach dem die Flüchtlinge aufgeteilt werden, da sind die Wirtschaftskraft und Bevölkerungszahl eines Landes eingerechnet. Leerer Wohnraum ist das eine, aber wir müssen auch schauen, wo es Arbeitsplätze gibt. Keinem ist geholfen, wenn wir die Bevölkerung überfordern. Wir merken ja, dass sich zum Beispiel die neuen Bundesländer schwerer mit Einwanderung tun.

Macht man es da den Bundesländern im Osten nicht zu einfach?

Nein. Wir sagen ja nicht, ihr bekommt weniger Flüchtlinge, als ihr aufnehmen müsst. Wir schicken nur nicht mehr hin, als es eigentlich sein müssten. Es gibt einen Verteilungsschlüssel, und den hat jeder zu erfüllen. So stelle ich mir das auch auf EU-Ebene vor.

Derzeit wird auch diskutiert, dass Flüchtlinge eine Zeit lang dort bleiben müssen, wohin sie zugewiesen werden.

Bei der Wohnsitzauflage geht es darum, dass nicht alle Flüchtlinge nach ihrer Anerkennung in die Städte ziehen sollen. Für die Städte wäre das ein ernsthaftes Problem. Wie eine solche Wohnsitzauflage praktisch aussehen könnte, ist noch völlig offen. Wenn man das macht, dann nur befristet und von vielen integrationspolitischen Maßnahmen begleitet. Man kann die Leute nicht in ein Dorf schicken und ihnen sagen, so, jetzt wartet mal ab. Das wäre integrationspolitisch fatal.

Wie lang sollte diese Wohnsitzauflage dann gelten?

Es dürfen nur wenige Jahre sein – wenn überhaupt.

Als Beauftragte haben Sie weniger Möglichkeiten als eine Ministerin – Sie haben auch schon ein eigenes Migrationsministerium gefordert. Was sollte das alles können?

Ich bin Staatsministerin und kann alle Geschehnisse am Kabinettstisch mitverfolgen. Aber ein Bundesminister kann eigene Gesetze vorschlagen und durchbringen. Es gäbe ein Ressort, das alle Aufgaben bündelt und bearbeitet. Natürlich ist es nicht einfach, aus fast allen Häusern Kompetenzen herauszunehmen und in einem neuen Ressort zusammenzufassen. Aber ich halte dies für absolut notwendig.

Für wie realistisch halten Sie es, dass das passieren wird?

Ich kann mir gut vorstellen, dass das bei den nächsten Koalitionsverhandlungen Thema sein wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.02.2016)

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