Die EU driftet auseinander

BRUSSELS BELGIUM British Prime Minister David Cameron Spain s Prime Minister Mariano Rajoy Bre
BRUSSELS BELGIUM British Prime Minister David Cameron Spain s Prime Minister Mariano Rajoy Bre(c) imago/Belga (imago stock&people)
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Vor dem heute beginnenden EU-Gipfel in Brüssel ist die Kluft in der Flüchtlings-, Stabilitäts- und Integrationspolitik noch einmal tiefer geworden. Selbst Kerneuropa mit Deutschland hat keine einheitliche Position mehr.

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Brüssel/Wien. Die Diagnose gab es schon einmal: Eurosklerose. Die Verhärtung von nationalen Positionen in Europa hat bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren zu einer schweren Krise der damaligen EG geführt. Nun ist das Problem im Bindegewebe der Gemeinschaft zurückgekehrt. „Sklerose ist keine eigenständige Krankheit“, heißt es im Lexikon, „sondern Folge einer anderen Grunderkrankung.“ Der Vergleich passt: Auch diesmal sind die Differenzen in der Flüchtlingskrise und in der noch nicht bewältigten Finanz- und Schuldenkrise nur Phänomene eines tiefer sitzenden Problems der Europäischen Union. Die politische Kooperation zwischen den 28 Hauptstädten und der Zentrale in Brüssel funktioniert nicht mehr. Nationale Lösungen scheinen plötzlich viel leichter verwirklichbar als europäische. Nicht einmal die Umsetzung gemeinsamer Beschlüsse kann noch garantiert werden. Der EU-Gipfel, bei dem ab heute, Donnerstag, neue Sonderregeln für Großbritannien und Kontroversen in der Flüchtlingspolitik beraten werden, dürfte diese Kluft erneut sichtbar machen.

Visegrád-Länder. Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn haben die gemeinsame europäische Migrationspolitik verlassen und verfolgen in der aktuellen Flüchtlingskrise ihren eigenen Plan B. Allen voran Bratislava und Budapest wollen die griechische Nordgrenze dichtmachen, die Balkanroute mit einer „zweiten Verteidigungslinie“ (Zitat: Orbán) abschotten. Woche für Woche fallen immer mehr Länder aus dem von Deutschlands Kanzlerin, Angela Merkel, forcierten gemeinsamen Lösungsansatz heraus. Im Norden haben sich Schweden und Dänemark vor Wochen ausgeklinkt. Sie nehmen keine neuen Flüchtlinge mehr auf. Frankreich, der einstige starke Partner Deutschlands, will den Zuzug deutlich beschränken und auch Österreich beendete diese Woche die sogenannte Willkommenskultur. Die im vergangenen Jahr beschlossene Verteilung von 160.000 Asylwerbern aus Italien und Griechenland ist nicht mehr umsetzbar (siehe Seite 2). Die vorgesehene finanzielle Hilfe für die Herkunfts- und Transitländer der Flüchtlinge und das Aufstellen gemeinsamer Grenzschutztruppen, wie es von der EU-Kommission vorgeschlagen wurde, werden nicht von allen mitgetragen. Griechenland könnte in Zukunft mit seinem immensen Zuzug aus der Türkei alleingelassen werden.

Großbritannien. Der Plan einer immer engeren Zusammenarbeit der EU-Staaten wird indessen von Großbritannien gestoppt. Mit dem anstehenden Gipfel und den erwarteten Zugeständnissen an die Regierung in London wird der Euro offiziell nur mehr eine europäische Währung von vielen sein. Ein zentrales Element des gemeinsamen Binnenmarkts, die Freizügigkeit für Arbeitnehmer, darf von Großbritannien über unterschiedliche Sozialleistungen erschwert werden. Und es ist zu erwarten, dass andere Mitgliedstaaten hier nachziehen – Österreich eingeschlossen. Gemeinsame Pläne der EU-Regierungen für eine strenge Regulierung des Finanzmarkts, um künftigen Fehlentwicklungen frühzeitig entgegenwirken zu können, werden an neuen Ausnahmeregelungen für Großbritannien scheitern. Als konkretestes Element der Vereinbarung mit Großbritannien soll der bedeutendste Finanzplatz der EU, die Londoner City, von allen in der Bankenunion vereinbarten Kontrollen ausgenommen werden.

Südeuropa. Die Nachwehen der Finanz- und Schuldenkrise sorgen zeitgleich für neue Differenzen. Italien, Griechenland, Portugal und Spanien wollen die gemeinsame Stabilitätspolitik aufweichen. Die neue Regierung in Portugal unter Ministerpräsident António Costa ruft zum „Ende der Austerität“ auf. Italiens Ministerpräsident, Matteo Renzi, fordert Zusagen aus Brüssel für ein höheres Budgetdefizit und durchkreuzt gemeinsam mit der französischen Führung die Pläne für einen konsequenten Abbau von Schulden.

Und doch gibt es für die EU Hoffnung: Ab Mitte der 1980er-Jahren heilte die Eurosklerose schon einmal aus. Damals drohte Europa vom aufstrebenden Asien und von den USA vom globalen Markt abgekoppelt zu werden. Die EG-Regierungen rückten für den gemeinsamen wirtschaftlichen Erfolg wieder zusammen – akzeptierten einheitliche Regeln auf dem Binnenmarkt, traten nach außen geschlossener auf und bereiteten die Gründung einer gemeinsamen Währung vor.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.02.2016)

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