EU-Verteilung von Flüchtlingen chancenlos

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GREECE-EU-MIGRANTS(c) APA/AFP/ARIS MESSINIS
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Das heute beginnende Ratstreffen wird sich vage mit dem EU/Türkei-Aktionsplan und den Hotspots befassen. Die Verteilung von 160.000 Menschen ist gescheitert, eine dauerhafte Quotenregelung völlig unrealistisch.

Wien/Brüssel. War es naiver Optimismus oder komplette Realitätsverweigerung? Das hehre Ziel der EU-Kommission, 160.000 in Italien und Griechenland gestrandete Flüchtlinge auf die restlichen Mitgliedstaaten der Union zu verteilen, stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Mehrere osteuropäische Länder meldeten Bedenken an: Ungarn und die Slowakei reichten gar Klage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegen das Vorhaben ein, nachdem die EU-Innenminister den Verteilmechanismus bei einem Treffen im vergangenen September per Mehrheitsentscheid beschlossen hatten.

Kurz vor dem wichtigen EU-Gipfel in Brüssel, der am heutigen Donnerstagabend beginnt, fällt die Bilanz niederschmetternd aus – die Verteilung ist de facto gescheitert. Bis dato haben die EU-Mitgliedstaaten insgesamt 4628 Plätze zur Verfügung gestellt – nicht einmal drei Prozent dessen, was das Umsiedlungsprogramm vorgesehen hat. Betrachtet man die Zahlen der tatsächlich verteilten Schutzsuchenden, ergibt sich ein noch drastischeres Bild: 288 Menschen wurden bisher aus Griechenland umgesiedelt, 295 konnten von Italien aus in anderen EU-Ländern Zuflucht finden.

Selbst Angela Merkel, die sich seit Monaten vehement für einen festen Verteilungsschlüssel unter den Mitgliedstaaten starkmacht, gestand zerknirscht ein, dass eine dauerhafte Quotenregelung bei dem zweitägigen Ratstreffen nicht einmal mehr auf der Tagesordnung steht.

Erdoğan: „Westen hat keine Chance“

Lange galt die gerechte Verteilung Zehntausender, an Europas Küsten gestrandeter Flüchtlinge als Schlüssel für die gemeinsame Lösung der schwersten Krise seit Bestehen der EU. Doch niemand glaubt heute noch ernsthaft an deren Verwirklichung – stattdessen lassen die Pläne die Mitgliedstaaten völlig zerstritten zurück. Während nämlich die Visegrád-Länder – Polen, Ungarn, die Slowakei und Tschechien – sich eine Einmischung in der Frage der Aufnahmekapazität für Flüchtlinge ohnehin verbitten, stellt auch Frankreich auf stur: 30.000 Plätze will die Regierung in Paris zur Verfügung stellen, „aber nicht mehr“, wie Regierungschef Manuel Valls jüngst in harschem Ton erklärte.

Damit gerät Merkels Plan, der Türkei jährliche Kontingente – die Rede ist von 250.000 Menschen – im Gegenzug für besseren Grenzschutz zu versprechen, gehörig ins Wanken (siehe unten). Er soll bei einem Vortreffen der „Koalition der Willigen“ in der österreichischen EU-Vertretung heute Mittag erörtert werden. Neben Österreich, Deutschland und Frankreich nehmen die Beneluxländer, Schweden, Finnland, Portugal, Slowenien und Griechenland daran teil; der türkische Premier, Ahmet Davutoğlu, wird hingegen nach dem Bombenanschlag in Ankara nicht teilnehmen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan stellte aber bereits klar, dass sein Land Flüchtlinge nicht zum Verbleib zwingen könne. Die westlichen Länder hätten „keine Chance, den Strom unter Kontrolle zu halten“, warnte er. Große Chancen auf ein konkretes Ergebnis beim Minigipfel rechnet sich auch Gastgeber Werner Faymann (SPÖ) nicht aus: Die heimische Regierung hat die gemeinsame Linie mit Deutschland verlassen und setzt mit verstärktem Grenzschutz auf die nationale Lösung. Auch die Forderung der Visegrád-Länder nach einer Abriegelung der Balkanroute an der mazedonisch-griechischen Grenze wird hierzulande besonders von ÖVP-Seite begrüßt.

Statt klarer Antworten dürfte das Ratstreffen also einmal mehr dürftige Absichtserklärungen liefern, wie auch die vorbereiteten Schlussfolgerungen vermuten lassen: Wie schon beim Gipfel im Oktober wird u. a. ein „Ende des Durchwinkens“ auf der Balkanroute gefordert, das unter den Mitgliedstaaten „schwere Besorgnis“ auslöst. Zudem sollen Ankara erste Schritte zur Umsetzung des Aktionsplans zugestanden werden, während „weitere Bemühungen“ – besonders im Kampf gegen Schlepper – erforderlich seien. Unklar bleibt, ob ein Rückführungsabkommen der EU mit Marokko und Algerien formal abgesegnet werden kann.

Juncker lobt „Fortschritte“

Trotz aller Unstimmigkeiten ließ Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker es sich gestern nicht nehmen, in einem „Bild“-Interview „erste Fortschritte“ in der Flüchtlingskrise zu loben: Der Anteil der Migranten, deren Fingerabdrücke genommen werden, sei in Griechenland von acht Prozent im September letzten Jahres auf 78 Prozent im vergangenen Jänner gestiegen; insgesamt lasse der Zustrom aus der Türkei bereits nach.

Vier von fünf geplanten Hotspots auf den Ägäis-Inseln stehen zudem endlich zur Flüchtlingsregistrierung bereit. Dies alles aber nützt wenig, wenn nicht zumindest ein Teil der Ankommenden per Verteilungsschlüssel in der EU Zuflucht findet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.02.2016)

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