EU: Gnadenstoß für den Stabilitätspakt

Italian Prime Minister Pier Matteo Renzi Interview
Italian Prime Minister Pier Matteo Renzi Interview(c) Bloomberg (Alessia Pierdomenico)
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Die italienische Regierung will Defizitkriterien weiter aufweichen, fordert eine gemeinsame europäische Einlagensicherung sowie Eurobonds.

Brüssel. Im Windschatten der Flüchtlingskrise versucht die italienische Regierung, den ungeliebten Stabilitätspakt auf der Müllhalde der europäischen Geschichte zu entsorgen. Während das Augenmerk in Brüssel und den EU-Hauptstädten auf die Lage auf dem Westbalkan und in Griechenland gerichtet ist (siehe Seite 1), veröffentlichte das Wirtschafts- und Finanzministerium in Rom ein neunseitiges Diskussionspapier mit dem Titel „Eine gemeinsame europäische Strategie für Wachstum, Arbeitsplätze und Stabilität“. Das Dokument, das der „Presse“ vorliegt, ist wohl als Diskussionsgrundlage für den Besuch von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Rom am kommenden Freitag gedacht. Sein Fazit: Die EU habe nur dann eine Zukunft, wenn sie die Defizitregeln lockert und für Bankeinlagen gemeinsam haftet.

Als größtes Problem sehen die Verfasser des Papiers momentan die zaghafte wirtschaftliche Erholung in Europa – das zarte Pflänzchen Wachstum müsse demnach von den politischen Entscheidungsträgern aufgepäppelt werden. Als wichtigstes Mittel dafür sieht Rom eine „wachstumsfreundliche Fiskalpolitik“, die „Flexibilität“ bei der Anwendung der Budgetvorgaben erfordert. Laut EU-Kriterien soll das Budgetdefizit im Normalfall nicht mehr als drei Prozent der Wirtschaftsleistung betragen und die Staatsverschuldung bei maximal 60 Prozent des BIPs liegen – in Italien beträgt die zweite Kennziffer derzeit rund 130 Prozent, weshalb Brüssel mit Argusaugen darauf schaut, dass Matteo Renzi budgetär nicht über die Stränge schlägt. Der italienische Premierminister wiederum wünscht sich, dass möglichst viele Ausgaben (etwa Investitionen oder die Kosten für die Versorgung der Flüchtlinge) aus dem Defizit hinausgerechnet werden. Diese Regeln sollten „adäquat zur ökonomischen Lage“ angewendet werden, heißt es in dem Positionspapier – und sie sollen „symmetrisch“, also für die gesamte Eurozone gelten. Soll heißen: Bevor die EU italienische Defizite kritisiert, soll sie deutsche Überschüsse unter die Lupe nehmen.

Apropos Deutschland: Eine weitere italienische Forderung, die in Berlin alles andere als gut ankommen dürfte, betrifft die Bankenunion. Diese ist aus italienischer Sicht unvollständig, weil sie über keine gemeinsame Einlagensicherung verfügt. Und zu guter Letzt wünscht sich Renzi Zugriff auf den Euro-Rettungsschirm ESM – wie genau, wird in dem Dokument nicht ausgeführt. Es geht allerdings darum, „die Vorteile dieser gemeinsamen Ressource optimal zu nutzen“ – etwa indem der ESM nicht nur zur Rettung überschuldeter Staaten, sondern zur Rekapitalisierung von Banken eingesetzt wird. Als „ambitioniertes Ziel“ wird die Umwandlung des ESM in einen „europäischen Währungsfonds“ genannt.

Euro-Anleihen gegen Flüchtlingskrise

Die Flüchtlingskrise wiederum dient der italienischen Regierung als Argument für die Einführung von (in Berlin ebenfalls unerwünschten) Euro-Anleihen, die alle Mitglieder der Währungsunion gemeinsam emittieren – wodurch Italien von den niedrigeren deutschen Renditen profitieren würde, so die unausgesprochene Hoffnung in Rom. Das gemeinsame Management der EU-Außengrenzen mache jedenfalls einen „gemeinsamen Finanzierungsmechanismus“ erforderlich.

Mit seiner Forderung nach einem Gnadenstoß für den Stabilitätspakt ist Renzi nicht allein. Auch die neue Linksregierung in Portugal würde den Pakt am liebsten beerdigen – wobei Lissabon von der Brüsseler Behörde zuletzt genötigt wurde, das Budget für 2016 nachzujustieren, um nicht in die Gefahrenzone zu geraten. In Spanien wiederum trägt das Hickhack um die Regierungsbildung nicht gerade zum Vertrauen bei. Federico Santi von der Ideenschmiede Eurasia Group hält Italien, Portugal und Spanien für besonders anfällig für eine etwaige Verschlechterung der konjunkturellen Großwetterlage, wie sie etwa von China ausgehen könnte. Nach Ansicht von Santi steht Premier Renzi in mehrfacher Hinsicht unter Druck: Sinkende Umfragewerte, Korruptionsskandale in der Regierungspartei sowie die geplante Staatsreform, von der Renzi seinen Verbleib an der Regierungsspitze abhängig macht, würden dazu führen, dass der Premier auf Konfrontationskurs mit Brüssel und Berlin geht, um sich bei den Wählern beliebt zu machen.

Der nächste Bericht der EU-Kommission zur budgetären Lage in Italien wird für den Mai erwartet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.02.2016)

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