Die Dublin-Verordnung kam unter völlig anderen Bedingungen und mit gänzlich falschen Erwartungen zustande. Heute ist sie für die einseitige Belastung von Ländern und den Zusammenbruch des EU-Asylsystems verantwortlich.
Wie konnte das geschehen: ein Raum ohne Grenzkontrollen, in dem Flüchtlinge in völligem Chaos umherziehen, eine Überbelastung von einzelnen Ländern? Das europäische Asylsystem ist an der Praxis gescheitert, die Dublin-Verordnung, die eigentlich regeln sollte, welches Land für die Abwicklung von Asylverfahren zuständig ist, hat ihren Zweck nicht erfüllt. Wir gingen auf Anregung von Bundespräsident Heinz Fischer der Frage nach, warum sich die damalige EG im Jahr 1990 auf eine Regel eingelassen hat, die zu einer Verzerrung der Verteilung bei allen künftigen Flüchtlingswellen führen musste, und warum diese Regel sogar zweimal erneuert wurde.
Obwohl ihr Inhalt viel komplexer ist, steht die Dublin-Verordnung in der öffentlichen Wahrnehmung für die Zuständigkeit des Ersteinreiselandes bei der Abwicklung von Asylverfahren. Würde diese Regel konsequent angewandt, so argumentierte etwa Justizminister Wolfgang Brandstetter kürzlich in einem Brief an den EU-Innenkommissar, hätte es nie zu einem Massenzuzug nach Österreich, Deutschland oder Schweden kommen dürfen. Die Flüchtlinge hätten in Griechenland und Italien bleiben müssen. „Dublin ist gescheitert!“, sagt der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi. Aus seiner Sicht ist die Regel für einen Massenansturm einfach nicht geeignet, weil sie einzelne Länder überfordert.
Der Ursprung des Problems liegt viele Jahre zurück, in der Gründungsphase des Schengen-Abkommens. Damals trugen gleich mehrere Fehleinschätzungen dazu bei, dass die Zuständigkeit für Asylverfahren derart festgelegt wurde. Der Ansatz war – wie bei vielen EU-Regeln – gut gemeint, die Realisierung aber von historischer Kurzsichtigkeit geprägt. Nachdem sich 1985 Deutschland, Frankreich, Belgien, die Niederlande und Luxemburg auf die Öffnung ihrer Binnengrenzen geeinigt hatten, wurde nach einer gemeinsamen Vorgangsweise bei der Einreise von Asylwerbern gesucht. Der Gedanke war logisch, dass immer nur ein Land zuständig sein sollte.
Aufnahme bei Familienangehörigen. Flüchtlinge, so schreibt das fünf Jahre später vereinbarte Dublin-Abkommen fest, sollen in erster Linie dort Aufnahme finden, wo sie bereits Familienangehörige haben. Wenn ein Asylwerber bereits ein Visum für ein europäisches Land hat – und sei es abgelaufen –, soll auch das berücksichtigt werden. Nur dann, wenn kein anderes Kriterium zur Anwendung kommt, bleibt das Ersteinreiseland zuständig.
Die erste Fehleinschätzung der damaligen Verhandler: Sie nahmen an, dass die meisten Flüchtlinge auch künftig auf legalem Weg zu ihren Familien ziehen und vorher ein Visum beantragen würden. Niemand dachte 1990 daran, dass nur noch das drittgereihte Kriterium – das Ersteinreiseland – zur Anwendung kommen könnte. Ein Grund ist, dass die Größe künftiger Fluchtwellen unterschätzt wurde. Mit Massen an Neuankommenden, von denen viele noch keine Familienangehörigen in der EU haben und die zuvor keine Chance hatten, ein Visum zu beantragen, rechnete offenbar niemand. Nicht bedacht wurde zudem, welche Folgen es haben würde, als sich die EU-Länder entschieden, den Zugang zu Asylverfahren in den Herkunftsländern einzuschränken. Denn seit der Jahrtausendwende erlauben EU-Regierungen Flüchtlingen nicht mehr, einen Asylantrag an einer ihrer Botschaften im Ausland zu stellen. Die Menschen müssen dafür de facto illegal in die Union einreisen.
Die zweite Fehleinschätzung hängt mit den Dimensionen zusammen. 1990 wurde das Dublin-Abkommen lediglich für fünf Schengen-Länder konzipiert, mittlerweile sind es 29. Das erschwert die Anwendung. Als Ende der 1990-Jahre das Dublin-Abkommen in Kraft trat, waren die Zahlen der Asylwerber in den meisten europäischen Staaten gering. Lediglich Österreich war von einer Flüchtlingswelle aus Ex-Jugoslawien betroffen. So wie heute Italien oder Griechenland forderte es damals vergebens Solidarität der europäischen Partner.
2003, ein Jahr vor der großen Erweiterung der EU, wurde das Dublin-Abkommen in eine EU-Verordnung (Dublin II) übergeführt. Dabei saßen die westeuropäischen Länder einer weiteren Fehleinschätzung auf. Auch Deutschland und Österreich glaubten sich in der bequemen Lage, nach den Beitritten ihrer Nachbarländer ausschließlich von sicheren Drittstaaten umgeben zu sein. Sie gaben sich der Illusion hin, bei einer Anwendung von Dublin II kaum noch Flüchtlinge aufnehmen zu müssen. Eine tief gehende Reform, die eine Lastenteilung unter allen EU-Ländern realisieren sollte und die von Spanien eingefordert wurde, kam also nicht zustande.
Rückführungsverbot. Die Dublin-Verordnung wurde geschaffen, um Doppelzuständigkeiten bei Asylverfahren auszuschließen. Wie die deutsche Asylexpertin Klaudia Dolk in einer Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung schreibt, wurden Flüchtlinge darin aber „nicht als Subjekte, sondern lediglich als Objekte eines technischen, zwischenstaatlichen Zuständigkeitsverfahrens betrachtet“. In vielen Fällen war es wegen der mangelnden Kooperation der beteiligten Staaten schlicht unmöglich oder aber unmenschlich, Asylwerber in ein anderes Land zurückzuschicken. Juristisch festgehalten wurde das, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2011 in einem Urteil die Rückführung nach Griechenland wegen der dortigen Zustände für inhuman erklärte. Seit damals ist die Dublin-Verordnung nicht mehr voll anwendbar.
Trotz all dieser Erfahrungen trat 2013 die Dublin-III-Verordnung in Kraft. Sie schreibt im Wesentlichen die bisherige Regel fort. Erneut reichte der politische Wille für eine Änderung nicht aus. Berlin, das heute auf die Aufteilung von Flüchtlingen in der EU pocht, stellte sich vor drei Jahren noch gegen einen von südeuropäischen Ländern geforderten Solidaritätsmechanismus. Für dieses Jahr ist der nächste Anlauf für eine Reform geplant.
FAKTEN
1990 wurde das Dublin-Abkommen beschlossen. Es sollte die Zuständigkeit bei Asylverfahren klären. 2003 wurde das Abkommen in eine EU-Verordnung (Dublin II) übergeführt, 2013 aktualisiert (Dublin III).
("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.03.2016)