Am Montag wurden die ersten 202 Flüchtlinge in die Türkei zurückgebracht. Nun stellen viele Flüchtlinge in Griechenland Asylanträge – und unterbrechen die Abschiebeprozedur.
Lesbos. Die ersten direkten Rückschiebungen illegaler Immigranten von den griechischen Inseln Richtung Türkei sind Realität: Am frühen Montagmorgen wurden von Lesbos und Chios im Rahmen der am 18. März geschlossenen Vereinbarung zwischen Brüssel und Ankara insgesamt 202 Menschen zurückverfrachtet. Der Transport verlief ohne Zwischenfälle und unter dem Protest von nur einer Handvoll Menschenrechtsaktivisten – mehrere Stunden vor der ursprünglich angekündigten Abfahrtszeit: Offensichtlich wollten die Behörden zu große Medienpräsenz vermeiden.
Die 136 aus Lesbos abgeschobenen Migranten stammen zum Großteil aus Pakistan und Bangladesch, sie hatten dem Vernehmen nach keine Asylanträge gestellt. Nur zwei Syrer, die auf freiwilliger Basis zurückkehrten, waren unter diesen ersten Rückkehrern. Aus Chios wurden zum Großteil Afghanen rückgeführt.
Legale Einreise als Ziel
Laut Abkommen wird für jeden aus Griechenland zurückgeschobenen Syrer in der Folge ein anderer Syrer direkt aus der Türkei nach Europa gebracht. Obwohl jedoch an diesem Tag erst zwei Syrer zurückgeschickt wurden, gestattete die Türkei 43 Syrern die Ausreise nach Europa. Insgesamt können bis zu 72.000 Syrer auf diese Art direkt nach Europa einreisen. Die legale Aufnahme von Flüchtlingen, die in Europa Asylanträge stellen wollen, ohne sie zur gefährlichen Reise über die Ägäis zu zwingen – das ist eines der Hauptanliegen des UN-Flüchtlingshochkommissariats.
Ursprünglich hatte es geheißen, dass am Montag 500 Migranten in die Türkei zurückgeschickt werden sollen. Doch wie in der griechischen Asylbehörde auf Anfrage der „Presse“ bestätigt wurde, haben in den vergangenen Tagen auf Lesbos und auf Chios Tausende Migranten erklärt, dass sie Asylanträge stellen wollen – damit wird deren Abschiebeprozedur bis auf Weiteres unterbrochen. „Montagmittag hieß es, dass 2900 Migranten Anträge stellen wollen“, erklärte Eleni Petraki von der Asylbehörde. Im Normalfall soll die Antragsbearbeitung 14 Tage dauern, bei Einspruch gegen einen ablehnenden Bescheid kann das Verfahren nach einem erst diesen Freitag beschlossenen Gesetz bis zu drei Monate dauern.
Ist die Asylbehörde bereit für diesen Ansturm an Asylanträgen? Die Struktur auf den Inseln werde sukzessive verstärkt, meint Petraki. Auch die zugesagten Helfer aus Europa würden in der laufenden Woche verstärkt eintreffen.
Nach Sperrung der mazedonischen Grenze für Flüchtlinge und Wirtschaftsmigranten sind in Griechenland inzwischen 52.000 Menschen gestrandet. Vergangene Woche kamen im Durchschnitt etwa 400 Migranten pro Tag über die Ostägäis nach Griechenland. Das sind im Vergleich zu den Spitzen im vergangenen Herbst stark reduzierte Zahlen, angesichts der dichten Grenzen und der begrenzten Kapazitäten aber immer noch viel zu viele. Vor allem in Idomeni an der Nordgrenze und zuletzt auch auf Chios ist die Lage angespannt. In der Nacht auf Montag gingen auf Chios die Emotionen wieder hoch, griechische Polizei und aufgebrachte Bürger gerieten aneinander, es gab sogar Verletzte.
Flüchtlinge prägen Alltag
Wie stark die Flüchtlinge inzwischen den Alltag in Griechenland prägen, wird spätestens beim Besteigen der Fähre nach Lesbos im Hafen von Piräus in Attika klar: Direkt am Pier 2, eingezwängt zwischen den riesigen Fährschiffen in die Ostägäis und nach Kreta an der Meerfront und voluminösen Lagerhallen, hat sich eine etwa 5000 Köpfe zählende Flüchtlings-Zeltstadt gebildet. Im abendlichen Flutlicht mischen sich die Schatten der Fußball spielenden Flüchtlingskinder, der Kohorten internationaler Helfer, die ganz ohne Hektik Essensrationen austeilen, mit den Autos, die sich in der Migrantenkolonie den Weg zu ihren Schiffen bahnen. Wer auf Chios die Fähre verlassen will, muss einen langen Umweg über den Hafen Mesta in Kauf nehmen – Flüchtlinge blockieren die Mole im Inselhaupthafen. In Lesbos liegen die türkischen Boote, die Flüchtlinge aufnehmen, unmittelbar neben der Anlegestelle der Fährschiffe aus Piräus. Bilder, an die sich Griechenland erst gewöhnen muss.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.04.2016)