Verfassungsjurist: Handschellen für den EuGH

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FILE LUXEMBOURG EUROPEAN COURT OF JUSTICE(c) EPA (NICOLAS BOUVY)
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Verfassungsjurist Dieter Grimm kritisiert eine schleichende Machtübernahme durch das europäische Höchstgericht.

Brüssel. Was braucht die EU, um ihre Krisen zu bewältigen? Zunächst einmal eine konkrete Vorstellung davon, wohin in der europäischen Integration die Reise gehen soll. Doch einen Konsens darüber gibt es nach wie vor nicht – und Mitschuld an diesem Zustand trägt nach Ansicht von Dieter Grimm eine Institution im Herzen der Union: der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Sitz in Luxemburg.

Dass einer der renommiertesten deutschen Verfassungsjuristen gegenüber der europäischen Konkurrenz kritisch ist, mag wenig überraschend sein – schließlich wacht das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe über seine Kompetenzen in der Bundesrepublik. Doch Grimm, der an der Yale Law School in den USA lehrt, argumentiert in seinem kürzlich erschienenen Buch „Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie“, dass die gängige Luxemburger Rechtspraxis die EU über kurz oder lang auf Kollisionskurs mit der gelebten demokratischen Praxis in Europa bringen werde. Seine lesenswerte (und erschöpfend begründete) These: Ausgehend von zwei Urteilen Anfang der 1960er-Jahre ist der EuGH dazu übergegangen, die EU-Verträge wie eine Verfassung zu interpretieren, um den Ausbau des Binnenmarkts voranzutreiben – was dazu geführt hat, dass jedes Urteil der Luxemburger Höchstrichter den politischen Spielraum in den Mitgliedstaaten immer mehr einschränkt. Die Folge ist laut Grimm ein zunehmendes Ungleichgewicht zwischen „negativer“ und „positiver“ europäischer Integration: Es sei einfacher, nationale Gesetze mittels EuGH-Verfahren zu vernichten, als europäische Gesetze zu machen – für die benötige man nämlich Mehrheiten im Rat und Europaparlament.

Apropos Parlament: Bietet sich das Hohe Haus der EU nicht als demokratisches Antidot an? Grimm ist diesbezüglich skeptisch. Eine Aufwertung des Europaparlaments als Gegengewicht zum Rat sei zwar sinnvoll, doch solange Gesetze nur auf Vorschlag der EU-Kommission gemacht würden und es keinen gesamteuropäischen Demos gibt, sei eine Demokratisierung der EU utopisch. (la)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.04.2016)

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