Koen Lenaerts, der Professor als Präsident auf dem Plateau

Koen Lenaerts
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Der belgische Rechtswissenschaftler Koen Lenaerts hat sich zielstrebig durch die Luxemburger Instanzen gearbeitet. Bis er zum Präsidenten des Gerichtshofs der Europäischen Union gewählt wurde.

Wenn Journalisten meinen, Koen Lenaerts eine einfach zu beantwortende Frage gestellt zu haben, können sie eine kleine Überraschung erleben: Koen Lenaerts, Präsident des Gerichtshofs der Europäischen Union, holt bei der Antwort gern einmal etwas weiter aus, zu einem Kurzvortrag über das vermeintlich einfache Thema. „Ich bin Professor“, sagt Lenaerts dann schmunzelnd als Entschuldigung. „Das ist eine berufliche Deformation.“

Der 61-jährige Belgier kommt zwar aus der Wissenschaft, ist er doch schon seit 1983 Professor für Europarecht an der Katholischen Universität Leuven. Dort hatte er – mit einer Unterbrechung für ein Masterstudium (Public Administration) an der Harvard University in den USA – auch seine Ausbildung absolviert und als Assistent zu arbeiten begonnen. Schon früh ging Lenaerts aber auch in die Praxis: 1984 lernte er als Rechtsreferent den EuGH erstmals von innen kennen, zu einer Zeit, als dieser baulich bloß aus dem „Palais“ auf dem Plateau Kirchberg in Luxemburg bestand. Das markante Gebäude musste später total umgebaut werden – nicht nur, weil es wegen der laufenden Erweiterung der EU zu klein wurde, sondern auch, weil es außer aus Stahl und Glas unter anderem aus gesundheitsgefährdendem Asbest bestand.

1986 bis 1989 arbeitete Lenaerts als Rechtsanwalt in Brüssel, nicht ohne parallel dazu am renommierten Europakolleg in Brügge und an der Harvard Law School zu lehren. Sein Fach auch im amerikanischen Cambridge: Europarecht.

Mit der Ernennung zum Richter am Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften am 25. September 1989 kam Lenaerts wieder auf das Plateau Kirchberg. Der damals 34-Jährige arbeitete fortan zielstrebig an seinem Aufstieg in den europäischen Instanzen – manch gesetzter Richter in Luxemburg rümpfte ob Lenaerts ausgeprägten Karrierebewusstseins die Nase. Was dem Belgier zugutekam: eine außergewöhnliche Sprachbegabung. Lenaerts spricht fließend Flämisch, Französisch, Englisch, Spanisch und, wie er sagt, als Autodidakt Deutsch. Auch in Italienisch und Portugiesisch findet er sich zurecht.

Nach 14 Jahren am Gericht erster Instanz wechselt der strebsame und fachlich ausgezeichnete Belgier an den Gerichtshof. Nach weiteren neun Jahren, am 9. Oktober 2012, wird Lenaerts als erster Richter überhaupt zum Vizepräsidenten bestellt. Der damalige Präsident Vassilios Skouris hatte die Idee, diese Position zu seiner Entlastung zu schaffen. Mit der Wahl Lenaerts' zum Vize durch die Mitglieder des EuGH zeichnete sich bereits ab, dass der Belgier der nächste Präsident werden würde, wenn Skouris nicht mehr kandidiert. Skouris schied im Oktober 2015 aus dem Gerichtshof aus – Lenaerts ist für seine ersten drei Jahre als EuGH-Präsident gewählt worden.

Mehr Jurist als Politiker

Der Präsident leitet nicht nur die Verwaltung des Gerichtshofs mit seinen 2132 Bediensteten und einem Budget von 378 Millionen Euro. Er leitet auch die rechtsprechende Tätigkeit, wie es in Artikel 8 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs heißt. Er führt den Vorsitz, wenn das Plenum oder die Große Kammer tagt, er leitet die Generalversammlung, in der die einzelnen Rechtssachen einem Spruchkörper zugewiesen werden, und er bestimmt, wer für welche Rechtssache Berichterstatter wird. In Abstimmungen hat der Präsident wie jeder andere Richter eine Stimme. Weggefährten beschreiben Lenaerts als eher konservativ – er ist aber mehr Jurist als Politiker.

Wenn Lenaerts den Gerichtshof nach außen vertritt, erhebt er seine Stimme als überzeugter Europäer und vehementer Verfechter der Rechtsstaatlichkeit. Im Gespräch mit der „Presse“ appellierte er daran, die Grenzen innerhalb der EU offen zu halten, sei doch die Reisefreiheit die „größte Errungenschaft für den Bürger“. Die Migration aus Drittstaaten sei eine politische Herausforderung, der sich der Gesetzgeber stellen müsse. „Der Gerichtshof tritt erst an zweiter Stelle auf.“

Privat wird Lenaerts von seiner Frau tatkräftig unterstützt; die beiden haben sechs erwachsene Kinder, wie es der Zufall will, ausschließlich Töchter.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2016)

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