Das britische Referendum paralysiert die europäische Wirtschaft und Politik. Investitionen und politische Entscheidungen werden zurückgehalten.
Brüssel. Es ist nicht nur Theaterdonner: Knapp vier Wochen vor dem Referendum über einen Verbleib Großbritanniens in der EU werden wirtschaftliche und politische Auswirkungen eines möglichen Austritts der Briten (Brexit) real spürbar. Investitionen gehen zurück. Die EU ist angesichts der Unsicherheit, ob ihr ein wichtiges Mitglied abhandenkommt, politisch paralysiert.
Da sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen abzeichnet, bereiten sich Großbritanniens Partner auf einen möglichen negativen Ausgang vor. Die Gruppe der größten Industrienationen (G7), der Rat der EU und die Europäische Zentralbank (EZB) entwickeln bereits Krisenszenarien. „Ein Austritt aus der EU würde den Trend zu mehr globalem Handel und zu Investitionen und der damit verbundenen Schaffung von Arbeitsplätzen umkehren und wäre deshalb ein weiteres ernsthaftes Risiko für das Wachstum“, hieß es in der am Freitag verabschiedeten Erklärung des G7-Gipfels in Japan. „Wirtschaftlich wäre ein Brexit eine schlechte Nachricht“, bestätigte Frankreichs Staatspräsident, François Hollande, in Ise-Shima. „Aber nicht nur für Großbritannien selbst, sondern auch für den Rest der Welt.“ Der britische Finanzminister, George Osborne, rechnet unter anderem mit einer Erschütterung auf den Finanzmärkten. Internationale Industrieunternehmen wie Siemens kündigten bereits an, dass ein Nein der Briten Einfluss auf künftige Investitionen haben könnte. Der Münchner Konzern beschäftigt derzeit 14.000 Mitarbeiter in Großbritannien. Aus Angst vor einem Nein sanken in den vergangenen zwölf Monaten erstmals seit Jahren die Unternehmensinvestitionen in Großbritannien. Es sind vor allem internationale Konzerne, die abwarten.
In Brüssel wurde im Kreis von Vertretern der Mitgliedstaaten bereits über die unmittelbaren Folgen eines Austritts der Briten diskutiert. Währungsexperten rechnen damit, dass ein Brexit das Pfund vorübergehend unter Druck setzen wird. Dies würde nicht nur Importe nach Großbritannien verteuern, sondern auch Unternehmen aus anderen EU-Staaten betreffen, die sich auf der Insel engagiert haben. Sie müssten einen Teil ihrer Gewinne abschreiben.
„Handeln derzeit nicht ohne Not“
Weil im Binnenmarkt alle Mitgliedstaaten voneinander abhängig sind, lähmt das Referendum bereits jetzt die gemeinsame Wirtschaft und die gemeinsame Politik. So hält sich die EU-Kommission seit Wochen mit Vorschlägen für neue Rechtsakte zurück und wartet bei heiklen Entscheidungen ab. Beispielsweise wurde die Veröffentlichung einer globalen Strategie für die europäische Außenpolitik verschoben. Offiziell heißt es, weil ein Brexit die Spielsteine dieser Strategie neu ordnen würde. Inoffiziell wird aber darauf verwiesen, dass die Strategie unter anderem neue Schritte zu einer immer engeren Kooperation der Diplomatie und des Militärs enthalten soll – zwei heikle Themen für das integrationsfeindliche London.
„Wir handeln derzeit nicht ohne Not“, drückt dies ein hoher EU-Beamter im Gespräch mit der „Presse“ vorsichtig aus. Als etwa in Brüssel ein neues Mobilitätspaket für Arbeitnehmer präsentiert wurde, fehlten die vorbereiteten sozialrechtlichen Vorschläge. Der Grund: Großbritannien ist bei allen Fragen rund um eine gemeinsamen Sozialpolitik extrem sensibel.
Die EU-Kommission hat sich für die letzten Wochen vor dem Referendum einen Maulkorb verordnet. Das britische Referendum wird nicht kommentiert. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker soll seine 27 Kommissare zudem aufgefordert haben, vorerst nicht auf die britische Insel zu reisen. Auch Juncker selbst, der normalerweise jede kleine Entwicklung in den Mitgliedstaaten kommentiert, hält sich auffällig zurück.
AUF EINEN BLICK
Am 23. Juni stimmt Großbritannien über einen Verbleib in der Europäischen Union ab. Letzte Umfragen lassen ein Kopf-an-Kopf-Rennen erwarten. In der monatlichen Brexit-Umfrage des Instituts BMG haben die Befürworter eines Austritts einen knappen Vorsprung. 45 Prozent wollen die EU verlassen, 44 Prozent an der Mitgliedschaft festhalten, der Rest ist noch unentschlossen. Der unsichere Ausgang hat bereits Investitionen in Großbritanniens Wirtschaft reduziert. Die EU-Kommission hält heikle politische Entscheidungen zurück. Im Rat der EU, in der EZB und von den G7 werden bereits Krisenszenarien entwickelt.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2016)