Die Auseinandersetzung um die EU-Mitgliedschaft bewegt Großbritannien. Das Thema Einwanderung steht im Vordergrund. Probleme und Stimmungen könnten entscheidend sein, Fakten spielen oft nur eine Nebenrolle.
Der Zug aus der britischen Hafenstadt Skegness trifft pünktlich um 13.15 Uhr ein. Waldek und Anna steigen wie vereinbart in Boston aus. Er hat einen Rucksack, sie trägt eine Reisetasche. Für ein neues Leben ist das nicht viel. Nach wenigen Minuten rast ein weißer Lieferwagen mit der Aufschrift „Local Link Recruitment: Specialist for packhouse worker solutions“ heran. Eine Frau springt heraus und gibt auf Polnisch Anweisungen: „Rasch. Einsteigen. Los!“
Großbritannien hat bei der EU-Erweiterung 2004 die Zuwanderung von 13.000 Menschen erwartet und daher auf Übergangsfristen für den Zugang zum Arbeitsmarkt verzichtet. Als Antwort auf diese Entscheidung kamen in den folgenden Jahren zahlreiche Osteuropäer nach Großbritannien – mindestens 3,1 Millionen Menschen sind es vorübergehend oder dauerhaft gewesen. Allein 2015 betrug die Nettozuwanderung 330.000 Menschen. Der Anteil von EU-Bürgern an der arbeitenden Bevölkerung (aktuell: 31,6 Mio.) stieg in zehn Jahren von 2,6 auf 6,8 Prozent.
An wenigen Orten ist die Konzentration dichter als in der Kleinstadt Boston in Lincolnshire, einem Zentrum der Agrarwirtschaft, mit etwa 70.000 Einwohnern. Der unersättliche Hunger nach billigen Arbeitskräften zieht die Menschen magnetisch an. Vor allem Junge, wie Maciej, der seit einem Jahr hier lebt: „Ich arbeite in einer Fabrik“, erzählt er. „In der Woche verdiene ich 300 Pfund. Ich versuche, so viel wie möglich zu sparen.“ Maciej lebt mit anderen Polen in einem Haus. Die Miete für ein Zimmer beträgt 110 Pfund. Manche Unternehmen bringen ihre Arbeitskräfte auch in Wohnwägen unter, in denen bis zu sechs Menschen übernachten. Der Wagenpark ist mit Stacheldraht umzäunt.
„Es geht einfach nicht mehr“
Der Anteil der nicht in Boston geborenen Bevölkerung stieg bis zur jüngsten Zählung 2011 von praktisch null auf 13 Prozent. Blumenhändlerin Claire sagt: „Wir sind voll. Es geht einfach nicht mehr.“ Zahllos sind die Klagen der Bewohner: Schulen und Ärzte seien überfordert, der Wohnraum nicht ausreichend, die Kriminalität steige stark. „Wir hatten früher eine kleine Spalte über Kriminalität in der Lokalzeitung“, sagt John, ein pensionierter Lehrer. „Heute sind es zwei Seiten.“
Boston erlangte landesweite Bekanntheit, als der Thinktank Policy Exchange die Stadt zur „am schlechtesten integrierten Gemeinde“ Großbritanniens kürte. Der Durchschnittslohn liegt mit 9,13 Pfund unter dem Landeswert von 13,33 Pfund. Zugleich liegt die Arbeitslosigkeit bei nur 4,4 Prozent. Die ausländischen Arbeiter nehmen keine Arbeitsplätze weg. Die Wirtschaft blüht. Aber die Menschen haben nichts davon.
„Zahlen sind bedeutungslos“
Dafür machen sie die Zuwanderer verantwortlich – und die Politiker: „Bloody fucking nobody“, antwortet Tom auf die Frage, wem er noch vertraut. In der mächtigen Stadtkirche von Boston mahnt Vikarin Angela Buxton: „Es geht um die Würde des Menschen.“ Geweiht ist die Kirche dem Heiligen Botolph, dem Schutzpatron der Reisenden. Im 16. Jahrhundert wanderten mehr als zehn Prozent der Bevölkerung nach Amerika aus und gründeten dort ein neues Boston.
Geschichtsträchtig ist auch die Kleinstadt Grantham in den East Midlands: Hier wurde 1925 Margaret Thatcher geboren. In ihrem Geburtsort sind heute EU-Befürworter fast so schwer zu finden wie ihr Elternhaus. Nur eine bescheidene Gedenktafel erinnert an die „Eiserne Lady“. „Ist mir eigentlich egal“, meint die Studentin Linda auf Fragen nach Thatcher und dem EU-Referendum. „Politik ist nicht mein Ding.“
Unter der älteren Generation dominieren auch hier die Sorgen. „Einwanderung war immer gut für unser Land, aber nur unter Kontrolle“, sagt Rose im Stadtmuseum. Die Klagen der Menschen sind dieselben wie in Boston. Der Autor Ben Judah schreibt: „Zahlen sind vollkommen bedeutungslos. Worum es den Menschen in Wirklichkeit geht, ist die ethnische Veränderung.“ Für alles machen die Menschen die EU verantwortlich, wie man es ihnen seit Jahrzehnten einbläut. „So lange wir in der EU sind, werden wir nie das letzte Wort haben“, sagt Rose.
Hoch ist die Mobilisierung der EU-Befürworter hingegen in London. Im strahlenden Sonnenschein in Greenwich lassen sich Anthony und Maya ihren Enthusiasmus nicht nehmen. „Es läuft gut, wir finden hohe Zustimmung“, sagt sie und verteilt Flugblätter für „Britain Stronger In Europe“.
Uneins ist das Ehepaar Jane und Ron. Während sie „zum Verbleib tendiert“, will er zuerst gar nichts sagen, ehe er loslegt: „Was gibt es da eigentlich noch zu fragen? Dieses Land ist an den Grenzen seiner Belastbarkeit. Der EU-Austritt ist unsere letzte Chance.“
Elf Prozent der heute in Großbritannien geborenen Kinder haben mindestens einen Elternteil aus einem anderen EU-Staat. In Londoner Bezirken wie Newham gibt es Schulen, in denen kein einziges Kind Englisch als Muttersprache hat. Wenn sie elf Jahre alt sind, übertrumpfen sie die meisten britischen Schulkameraden. „Das größte Problem für uns sind weiße Kinder aus der britischen Arbeiterklasse“, sagt Schuldirektor Iain Erskine. Die Eltern dieser Kinder stellen einen Kern der EU-Gegner dar. Sie sehen sich als Verlierer massiver wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen in den vergangenen fünfzehn Jahren. Fakten – wie etwa die Tatsache, dass ausländische Arbeitnehmer allein im Finanzjahr 2013/14 einen Nettobeitrag zum Staatshaushalt von 2,5 Milliarden Pfund leisteten – werden ihre Wahl am 23. Juni nicht entscheiden.
AUF EINEN BLICK
Die Zuwanderung nach Großbritannien ist auf Rekordniveau geblieben: 2015 zogen 333.000 mehr Menschen ins Vereinigte Königreich als auswanderten. Im Vergleichszeitraum 2014 waren es mit 336.000 Menschen so viele wie nie zuvor gewesen. Die meisten Zuwanderer (184.000 Menschen) kamen 2015 ebenso wie 2014 aus anderen EU-Staaten. Die Zuwanderung aus der EU ist ein Argument der Befürworter eines EU-Austritts, über den am 23. Juni abgestimmt wird.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2016)