EU-Höchstgericht: Motor mit Bremsfaktor

Illustration: Marin Goleminov
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Europäischer Gerichtshof. Das in Luxemburg ansässige oberste Gericht hat mit seinen Urteilen die Integration vorangetrieben. Zum Teil scheint er nach eigener Meinung zu weit gegangen zu sein; auch die Kontrolle anderer Organe nimmt er ernst.

Die Flucht- und Migrationsbewegungen in Richtung Europa, denen die Europäische Union weitgehend paralysiert gegenübersteht, zeigt deutlich, was der Europäische Gerichtshof in Luxemburg kann und was nicht. Es war dieses höchste Gericht der Europäischen Union, das als Erstes das Dublin-System de facto für gescheitert erklärt hat: Schon im Jahr 2011 kam aus Luxemburg die klare Aussage, dass – Erstaufnahmeland hin oder her – Flüchtlinge nicht aus anderen EU-Ländern nach Griechenland zurückgeschickt werden dürfen, wenn sie dort unter unmenschlichen Bedingungen verwahrt werden.

Das wurden sie. Und auch wenn sich die prekäre Lage mittlerweile insofern entspannt hat, als die Flüchtlinge in griechischen Lagern mit dem Allernötigsten versorgt werden: Noch wird niemand dorthin zurückgeschickt.

Was der Gerichtshof also sagen konnte, war: So nicht. Er konnte und kann aber nicht entscheiden, wie die Menschen aus Kriegs- und Krisenregionen auf die Europäische Union verteilt werden sollen. Darauf müssten sich die 28 Mitgliedsländer schon selbst einigen. Dieses Phänomen ist aus der nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit wohl bekannt: Der österreichische Verfassungsgerichtshof etwa kann zwar Gesetze aufheben, aber ebenfalls keine neuen Regelungen erlassen – er wird deshalb auch „negativer Gesetzgeber“ genannt.

Es gab allerdings Zeiten, in denen der EU-Gerichtshof sehr wohl konstruktiv gewirkt hat und – um bei der Begriffsbildung zu bleiben – als eine Art positiver Gesetzgeber aufgetreten ist. Er hat bereits in sehr frühen Entwicklungsphasen Grundsätze formuliert und diesen zum Durchbruch verholfen, welche die Gemeinschaft erst geformt haben. Zuallererst jene über die Wirkweise des Gemeinschaftsrechts an sich.

Recht muss effektiv sein

Die Union ist ja primär ein rechtliches Konstrukt, kein aus einer Nation gewachsenes Gemeinwesen. Also ist es immer wichtig gewesen, die Effektivität des Europarechts sicherzustellen. Es ist kein Zufall, dass die EuGH-Urteile über die unmittelbare Wirkung des EU-Rechts in den Mitgliedstaaten und über dessen Vorrang vor staatlichem Recht, ja selbst vor Verfassungsrecht, zu den frühen Meilensteinen gehören, die von den Luxemburger Richtern in Position gebracht worden sind. Dazu kamen die Grundsatzurteile, mit denen der Binnenmarkt eigentlich erst zu einem solchen geworden ist: Cassis de Dijon, ein Johannisbeerlikör aus Frankreich, wäre nicht auf dem ganzen Kontinent bekannt geworden, hätte er nicht 1979 einer Leitentscheidung für den freien Warenverkehr seinen Namen geliehen. Seither gilt als Grundsatz: Ein Produkt, das in einem der Mitgliedsländer rechtmäßig vertrieben wird, darf auch in allen anderen EU-Staaten frei gehandelt werden.

Und dann die Freizügigkeit der Person, für Unionsbürger die wohl sinnfälligste Auswirkung der europäischen Einigung. Ein Aspekt davon: der ebenfalls vom EuGH entwickelte Grundsatz, dass ein akademischer Abschluss, den ein Bürger aus einem Mitgliedstaat mitbringt, von jedem anderen anerkannt werden muss.

Wegen derlei Entscheidungen konnte der EuGH trefflich als Motor der europäischen Integration apostrophiert werden. Doch diese Zeiten sind vorbei. Seine Rolle hat sich gewandelt. Der Motor entwickelt zunehmend Bremswirkung, selbst in Zusammenhängen, in denen er zuvor noch für Vortrieb gesorgt hat. So ist der Gerichtshof bei der Ausgestaltung der Unionsbürgerschaft, 1992 mit dem Vertrag von Maastricht eingeführt, dem EU-Gesetzgeber vorausgeeilt und hat die Sozialhilfe auch für solche Bürger anderer EU-Länder geöffnet, die im Gastland keine Beiträge geleistet haben.

Von staatlicher Seite heftig kritisiert, ist der Gerichtshof dann dazu übergegangen, das Tempo zu drosseln und solche Ansprüche aus der Sozialversicherung restriktiver zu behandeln. Je nach Standpunkt kann man das als eine Anwandlung von Populismus kritisieren oder aber als Augenmaß loben. Die Richter sind sich jedenfalls dessen bewusst, dass sie nicht im luftleeren Raum agieren, sondern auch auf die Akzeptanz ihrer Entscheidungen achten müssen.

Einer breiten Zustimmung der Öffentlichkeit kann sich der Gerichtshof sicher sein, wenn er seine Rolle als Hüter der Menschenrechte wahrnimmt. Dabei bremst er nicht sich selbst ein, sondern setzt anderen Organen der Union Grenzen. Das tat er beispielsweise, indem er die von den Regierungen im Rat gutgeheißene Vorratsdatenspeicherung kippte. Diese sollte bis zu zwei Jahre lang festhalten, wer wann wo mit wem kommuniziert hat. Da das ohne jeden Verdacht und Anhaltspunkt für schwerkriminelle Aktivitäten geschah, zu deren Bekämpfung alles gedacht war, ging die Vorratsdatenspeicherung dem Gerichtshof zu weit. Übrigens hatte den EuGH der österreichische Verfassungsgerichtshof angerufen, der von Anfang an ein entspannt-arbeitsteiliges Verhältnis zu Luxemburg gesucht hatte.

Wie eine schallende Ohrfeige für die EU-Kommission wirkte dann die Entscheidung im Fall Schrems, wieder eines Österreichers, gegen Facebook: Für den EuGH war es inakzeptabel, wie die Brüsseler Kommission im Wege des Safe-Harbor-Abkommens mit den USA den Schutz der Daten bei deren Transit über den Atlantik über Bord geworfen hatte.

Es ist gut zu wissen, dass auch auf EU-Ebene unabhängige Richterinnen und Richter darüber wachen, was der Politik und Bürokratie so einfällt.

AUF EINEN BLICK

Der Gerichtshof der Europäischen Union ist, neben dem aus Staatenvertretern zusammengesetzten Rat, der Kommission und dem EU-Parlament, eines der wichtigsten Organe der EU. Er besteht aus dem Gerichtshof im engeren Sinn, dem Gericht und dem Gericht für den öffentlichen Dienst.

28 Richterinnen und Richter arbeiten am Gerichtshof jeweils von den einzelnen Mitgliedstaaten nominiert und von deren Gesamtheit einvernehmlich ernannt. Seit dem Jahr 2010 wird vor der Ernennung ein Komitee angehört, das die fachliche Qualifikation der Nominierten prüft – bisher sind sieben an dieser Hürde gescheitert. Elf Generalanwälte unterstützen die Richter.

Mit seinen Urteilen gibt der Gerichtshof verbindlich vor, wie das EU-Recht auszulegen ist; und er überprüft, ähnlich wie ein nationales Verfassungsgericht, die Rechtmäßigkeit der Handlungen der Unionsorgane.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2016)

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