Die Kommission legt ihre Bedenken offiziell dar: Nun muss die Regierung in Warschau belegen, dass sie die Rechtsstaatlichkeit nicht aushöhlt. Gelingt dies nicht, droht der Entzug des polnischen Stimmrechts im Rat.
Brüssel. Die EU-Kommission lässt im Streit um das polnische Verfassungstribunal nicht locker. Nachdem gutes Zureden keine Erfolge gezeitigt hat, verschärft die Brüsseler Behörde die Gangart: Am Mittwoch gab Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans bekannt, dass eine offizielle Stellungnahme zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in Polen an die Regierung in Warschau übersendet wurde.
Damit vollzieht die Kommission die erste Stufe des dreistufigen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, eingeführt 2014. Anlass zur Schaffung der Prozedur waren Sorgen um die Situation in Ungarn. Nun ist die nationalkonservative polnische Regierung am Zug: Sie muss die Bedenken der EU „innerhalb eines angemessenen Zeitraums“ ausräumen. Gelingt ihr das nicht, kann die Kommission zur Stufe zwei übergehen und Warschau konkrete Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit empfehlen. Für den Fall, dass diese Empfehlungen ignoriert werden, bleibt als Ultima Ratio die dritte und letzte Stufe: ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags, das zur Suspendierung der Stimmrechte Polens im Rat führen könnte – sofern die restlichen 27 Unionsmitglieder dies einstimmig beschließen.
„Konstruktiv und fruchtbar“
Über etwaige Sanktionen wollte Timmermans gestern allerdings nicht spekulieren. Der Stellvertreter von Jean-Claude Juncker, der in den vergangenen Monaten mehrere Gespräche mit der polnischen Regierungschefin, Ewa Szydło, geführt hatte, bemühte sich gestern, den Kommissionsbeschluss als eine Mischung aus Gedächtnisstütze und Motivationstraining zu beschreiben: Die EU-Stellungnahme solle demnach den konstruktiven und fruchtbaren Dialog mit Warschau unterstützen. Timmermans machte allerdings auch klar, dass Warschau nicht auf besondere Milde zählen könne, denn nach zwölf Jahren EU-Mitgliedschaft sei Polen beileibe kein neues Mitglied mehr, dem besonderes Verständnis entgegengebracht werden müsse.
Bei der Parlamentswahl 2015 hatte die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Jarosław Kaczyński die absolute Mehrheit der Mandate im Warschauer Unterhaus errungen. Die Wahlsieger interpretierten den fulminanten Erfolg als Auftrag zum Totalumbau des polnischen Staates. Erstes Ziel war dabei das Verfassungsgericht: Nach Problemen mit der Besetzung vakanter Richterstellen durch die Vorgängerregierung änderte PiS die Vorschriften zur Arbeitsweise des Tribunals und ernannte ihrerseits neue Höchstrichter. Nachdem das Verfassungstribunal diese Beschlüsse für rechtswidrig erklärt hatte, weigerte sich die neue Regierung, die entsprechenden Urteile zu publizieren – seither ist das Höchstgericht de facto lahmgelegt.
Im Einklang mit der Venedig-Kommission des Europäischen Rates kritisiert Brüssel die Ernennung neuer Höchstrichter, die im Eilverfahren beschlossene Novelle des Verfassungsgerichtsgesetzes sowie die Nichtveröffentlichung von Urteilen im Amtsblatt. Weiters habe Warschau es verabsäumt, die Kommission über die bevorstehende Reform des Mediengesetzes zu informieren.
Polens Justizminister, Zbigniew Ziobro ,zeigte sich gestern „überrascht“ – und mutmaßte, sein Land solle durch das EU-Verfahren dazu gezwungen werden, „Zehntausende Migranten aufzunehmen“. (la)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.06.2016)