Beim Thema Brexit ist das Königreich nicht vereint

Pound Slides To Two-Month Low As Bank Of England Warns Of Brexit Risk
Pound Slides To Two-Month Low As Bank Of England Warns Of Brexit Risk(c) Bloomberg (Luke MacGregor)
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Die vier Landesteile Großbritanniens sind sich uneinig in ihrer Haltung zur EU. Bei einem Austrittsvotum droht in Schottland ein neues Unabhängigkeitsreferendum, auch Nordirland wird mit Mehrheit für die Mitgliedschaft stimmen. In England und Wales schwankt die Stimmung.

London. Der Ausgang der Volksabstimmung in Großbritannien am 23. Juni wird nicht nur über Verbleib oder Austritt des Landes aus der Europäischen Union entscheiden. Auf dem Spiel steht auch der Fortbestand des Vereinigten Königreichs in seiner bisherigen Form. Alex Salmond, einer der Führer der schottischen Nationalisten, kündigte bereits an: „Wenn wir gegen unseren Willen aus der EU gerissen werden, wird Schottland für die Unabhängigkeit stimmen.“

Tatsächlich ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass Schottland am 23. Juni mit überwältigender Mehrheit dem Verbleib Großbritanniens in der EU zustimmen wird. Regierungschefin Nicola Sturgeon steht an vorderster Front im Kampf für die britische EU-Mitgliedschaft, die nach ihren Worten vorerst Vorrang vor der schottischen Unabhängigkeit habe. Das Parlament in Edinburgh stimmte Ende Mai mit 106:8 Stimmen einem Antrag zu, der sich für den Verbleib Großbritanniens in der EU aussprach.

„Es gibt keine ernst zunehmende politische Kraft in Schottland, die nicht für die EU ist“, meint auch James Mitchell von der University of Edinburgh. Das spiegelt sich in den Meinungsumfragen wider, die bis zu 76 Prozent der Schotten im Lager des EU-Verbleibs sehen. Entscheidend ist die wirtschaftliche Unsicherheit bei einem Austritt: Die EU-Gegner bleiben eine glaubhafte Vision schuldig. 46 Prozent der schottischen Exporte gehen in die Union.

Ebenfalls mit großer Mehrheit für die weitere EU-Mitgliedschaft wird Nordirland stimmen, und das, obwohl First Minister Arlene Foster von der konservativen Democratic Unionist Party für den Brexit wirbt. Nicht nur bekommt die Provinz Ulster pro Kopf die höchsten Zuwendungen aus Brüssel und sind die meisten Jobs direkt von der EU-Mitgliedschaft abhängig. Auch kommen etwa 87 Prozent des Einkommens nordirischer Landwirte direkt aus EU-Zahlungen. Aber es ist nicht nur die Wirtschaft, die hier die Wähler bewegt. Mit einem Austritt aus der Union würde die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland zur einzigen EU-Landesaußengrenze Großbritanniens. Das Verschwinden der Grenze innerhalb der EU hat in den vergangenen 20 Jahren den Friedensprozess zur Realität werden lassen und in vieler Hinsicht zu einer stillschweigenden Wiedervereinigung der Insel geführt. Mit bisher 1,5 Milliarden Pfund ist die EU auch der größte Financier von Friedensprogrammen.

Brexit-Befürworter in Küstenstädten

So ist es nicht verwunderlich, dass die Regierung in Dublin glühend für den Verbleib der Briten in der EU wirbt. Während zahlreiche Großbanken und -unternehmen planen, im Fall eines Brexit ihre Hauptquartiere von Großbritannien nach Irland abzuziehen, sind 200.000 Arbeitsplätze in Irland vom Export nach Großbritannien abhängig.

Schwankend hingegen ist die Stimmung in Wales, wo die Krise der Stahlindustrie derzeit nicht gerade für die EU Werbung macht. Ein Gefühl, von der EU-Mitgliedschaft profitiert zu haben, ist trotz hoher Unionszahlungen nicht verbreitet.

Dass Dankbarkeit keine politische Kategorie ist, kann man auch in England erfahren, wo die von der EU besonders geförderte Grafschaft Cornwall an der Spitze der Unionsgegner steht. Mit 530.000 Einwohnern hat Cornwall allein 2007 bis 2013 mehr als 654 Millionen Euro bekommen. Dennoch träumt man hier von der Zeit vor der Fischfangquote: „Brüssel bedeutet Papierkram und Verbote“, sagt ein lokaler Unternehmer.

Eine große Mehrheit gegen die EU-Mitgliedschaft erwarten Meinungsforscher auch in den Küstenstädten Ost- und Südenglands, die am meisten der Einwanderung ausgesetzt sind. Ebenfalls in der Mehrheit dürften die Gegner der Union in den Midlands und Yorkshire sein, traditionelle Industriegebiete unter Globalisierungsdruck. Die stärkste Zustimmung zur EU hingegen ist in wohlhabenden Gegenden mit junger und gut ausgebildeter Bevölkerung zu finden, etwa in Universitätsstädten wie Oxford, Cambridge oder Bristol.

Klar in der Mehrheit sind die EU-Befürworter auch in London, wo 5,5 Millionen Menschen ihre Stimmen abgeben dürfen. Insgesamt werden 44,7 Millionen wahlberechtigt sein, davon entfallen 37,4 Millionen auf England, 2,2 Millionen auf Wales, 3,9 Millionen auf Schottland und 1,2 Millionen aus Nordirland. (gar)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.06.2016)

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