Nach dem Brexit werden in den Pro-EU-Regionen Schottland und Nordirland Rufe nach Abspaltungsabstimmungen laut.
Wien/London. Das Brexit-Votum ist nicht der Anfang einer schwierigen britischen Trennung von der EU – es droht auch das seit 215 Jahre bestehende Großbritannien auseinanderzureißen: Die EU-freundlichen Schotten und Nordiren machten bereits am Freitag deutlich, einen anderen Weg als die europafeindlichen Engländer und Waliser gehen zu wollen.
So trat Schottlands resolute Regierungschefin, Nicola Sturgeon, gleich Freitagvormittag vor die Kameras: „Wie die Dinge jetzt stehen, wird Schottland wohl gegen seinen Willen aus der EU austreten müssen. Das ist demokratisch nicht hinnehmbar“, beklagte die Chefin der Pro-Unabhängigkeitspartei Scottish National Party (SNP). „Für mich ist klar, dass die Option eines zweiten Unabhängigkeitsreferendums nun auf dem Tisch ist. Eine neue Abstimmung ist sogar sehr wahrscheinlich.“ Dieses Referendum sollte auf jeden Fall vor dem britischen EU-Austritt erfolgen.
Die Schotten hatten sich am Donnerstag mehrheitlich (62 Prozent) für den Verbleib in der EU ausgesprochen. Die EU-Mitgliedschaft war paradoxerweise eines der überzeugendsten Argument des probritischen Lagers gewesen, als sich die Schotten im September 2014 in einem Referendum gegen eine Loslösung von Großbritannien entschieden hatten.
Allerdings bezweifeln Beobachter, dass die seit der Volksbefragung von 2014 vorsichtiger gewordene nationalistische SNP tatsächlich so schnell wieder abstimmen lassen wird. Denn vor einem neuen Votum müsste die Partei die Sicherheit haben, das Referendum diesmal auch wirklich gewinnen zu können. Sonst droht ein massiver Glaubwürdigkeitsverlust. Für einen sicheren Sieg bräuchte die SNP aber eine überzeugende wirtschaftliche Strategie, um diesmal auch zögerliche Wähler überzeugen zu können. Die unsichere ökonomische Zukunft eines unabhängigen Schottlands hat viele Unabhängigkeitsbefürworter dazu veranlasst, letztendlich doch für einen Verbleib in Großbritannien zu stimmen.
Grenzkontrollen in Irland?
Nicht nur in Schottland, auch in der früheren Krisenregion Nordirland hat das Anti-EU-Votum alte Ressentiments gegen England geweckt. 55,7 Prozent der Nordiren sprachen sich Donnerstag für Remain aus. Was Vizegouverneur Martin McGuinness, Mitglied der nationalistischen Sinn Fein, dazu brachte, alte Wunden wieder aufzureißen: „Diese Abstimmung hat schwere Folgen für uns alle auf der irischen Insel. Besonders hart wird es Nordirland treffen“, sagte er. McGuinness erwähnte die wirtschaftlichen Konsequenzen für die ohnehin arme Region – und die Wiedereinführung möglicher Grenzkontrollen auf dem seit 1921 geteilten Irland. Er forderte explizit eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands. „Die britische Regierung hat nun kein demokratisches Mandat mehr, Nordirland bei Verhandlungen mit der EU zu vertreten.“
Ähnlich wie in Schottland dürfte die Forderung nach einem Referendum vorerst wenige Chancen auf eine schnelle Umsetzung haben: Denn McGuinness' Aussagen wurden umgehend von der pro-britischen nordirischen Regierungschefin, Arlene Foster, zurückgewiesen: Sie wies vehement die Idee eines solchen Votums als „völlig unvorstellbar“ zurück. (basta.)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2016)