Katerstimmung am Tag nach dem Brexit

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Erstmals fühlt sich der Ausländer in London als Fremder. Die EU-Gegner brechen jetzt schon ihre Versprechen. Schottland will direkt mit Brüssel sprechen.

Am Morgen nach der Entscheidung für den EU-Austritt ist Großbritannien mit gewaltigen Kopfschmerzen erwacht. Die einen haben sie vom Feiern, die anderen vom Klagen. „Ich fühle mich ausgezeichnet“, erzählt Transportunternehmerin Angela aus der mittelenglischen Kleinstadt Boston der „Presse am Sonntag“ am Telefon. „Ein Riesengewicht ist uns von den Schultern gefallen. Wir haben unser Land zurückbekommen.“ Dagegen meint der Londoner Craig: „Ich bin zutiefst bestürzt. Heute bin ich durch die Stadt gegangen, und alles fühlt sich vermindert an. Nichts ist mehr, wie es einmal war.“

Die Dynamik des Landes ist auf einmal nicht mehr auf der Seite von Menschen wie Craig. Er arbeitet in der Londoner City bei der Niederlassung einer internationalen Bank, seine Frau stammt aus Litauen, sie haben zwei kleine Kinder, und vor drei Jahren haben sie ein Haus gekauft. „Heute kann ich nicht mehr sicher sein, dass mein Job hier bleibt. Meine Frau sagt, sie sei in ein anderes Land gekommen.“ Die BBC berichtete am Freitag, dass die Investmentbank Morgan Stanley den Transfer von 2000 Mitarbeitern nach Dublin und Frankfurt vorbereitet. Der Pariser Vizebürgermeister, Jean-Louis Missika, wirbt: „Wir werden ihnen den roten Teppich ausrollen.“

Viele fühlen sich, als sei ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Menschen, die seit Jahren und Jahrzehnten in Großbritannien leben, empfinden sich nun erstmals als Fremde. Die Italienerin Lucia, die für einen britischen Thinktank arbeitet, sagt: „Als ich 2006 kam, beschimpfte mich jemand in der U-Bahn als Ausländerin. So fühle ich mich heute wieder. Es ist, als hätten die Briten zu uns gesagt, wir sollen verschwinden.“

Olga, die vor elf Jahren aus Polen nach East London gekommen ist, ein Delikatessengeschäft eröffnet und damit fünf Arbeitsplätze geschaffen hat, sagt: „Es ist ein schwerer und trauriger Moment für uns.“ Sie hat zwei Kinder in der Schule. „Niemand weiß, was kommen wird.“ Der deutsche Banker Bernhard meint: „Der Brexit bedeutet einen schweren wirtschaftlichen Verlust für mich. Meine Ersparnisse und die Pensionsvorsorge sind in Pfund angelegt. Aber was mich viel mehr schmerzt: Am Donnerstag hat mir das Land gesagt, dass es uns nicht mehr mag.“

Unter vielen Briten sind angesichts der Tragweite der Entscheidung Sorge und Bestürzung ausgebrochen. Unter Namen wie „Ich wollte das nicht“ oder „Nicht in meinem Namen“ machen sie ihrem Unbehagen Luft. „Das Schicksal unseres Landes wurde von Leuten entschieden, die sich nach einer Vergangenheit sehnen, die es nie gegeben hat, und die eine Zukunft geschaffen haben, die düster sein wird“, lautet ein Eintrag. Besonders unter Jungwählern, die bis zu 75 Prozent für den Verbleib in der EU gestimmt haben, herrscht Ärger. „Wir werden damit leben müssen“, warfen sie den älteren Wählern vor, die mehrheitlich den Brexit wählten.

Andere haben bereits Angst vor der eigenen Courage. Die Region Cornwall, die zu den Gegenden mit der höchsten EU-Förderung gehört und dennoch mit 56,5 Prozent gegen die Union gestimmt hat, hat einen Aufruf veröffentlicht, in dem es heißt: „Wir ersuchen um dringende Bestätigung, dass wir weiterhin denselben Betrag erhalten werden.“ Allein zwischen 2007 und 2013 flossen 654 Millionen Euro in die für ihre Schönheit, nicht aber ihre Wirtschaftskraft berühmte Region.

Tiefe Gräben. In Schottland erklärte Regierungschefin Nicola Sturgeon, die Option eines neuen Unabhängigkeitsreferendums sei jetzt „auf dem Tisch“. In Direktkontakten mit Brüssel wolle man nun „sicherstellen, dass Schottland in der EU bleibt“. Zugleich werde man „mit der Vorbereitung der legislativen Schritte für ein neues Referendum“ beginnen. Sturgeon hält sich damit alle Optionen offen.

Eine Online-Petition für ein neues EU-Referendum überschritt gestern die Marke von einer Million Unterzeichnern, zehnmal mehr als für eine Debatte im Parlament erforderlich sind. Großen Zuspruch fand auch eine Initiative für den Zusammenschluss und die Unabhängigkeit von Schottland und London – den Hochburgen der EU-Befürworter – unter dem Namen: ScotLond.

Es wird freilich ebenso ein Traumland bleiben wie Hoffnungen auf ein zweites Referendum. Die Brexit-Seite sieht sich als Sieger und will Action sehen: „Jahrelang hat niemand auf uns gehört. Jetzt ist unser Moment gekommen“, sagt Angela. Ihre Heimatstadt Boston, die besonders hohe Zuwanderung durch Landarbeiter hat, hat mit 75,6 Prozent den Rekord an Austrittsstimmen aufgestellt.

Keine noch so geschickte Verhandlungstaktik und keine noch so elegante juristische Hilfskonstruktion in den Gesprächen mit Brüssel wird es der neuen britischen Führung erlauben, diese Stimmung im Volk zu ignorieren. Es ist die Stimme der englischen Mehrheit, und sie will Resultate sehen: „Als Erstes erwarten wir einen sofortigen Stopp der Einwanderung und eine Wiedereinführung der Grenzen“, sagt der Brexit-Wähler Ian aus Romford bei London.

Mit derartigen Schritten ist auch aus der politischen Dynamik heraus sehr bald zu rechnen. Das Anti-EU-Lager bricht bereits jetzt seine Versprechen schneller als es seinen Slogan „Vote Leave. Take Back Control“ aussprechen kann: Infrage gestellt oder zurückgenommen wurden allein seit Freitag die Zusage, den EU-Mitgliedsbeitrag in das nationale Gesundheitswesen zu investieren, die Erklärung, dass der Brexit eine Verringerung der Zuwanderung bringen wird, die Zusicherung auf einen geordneten Ausstieg aus der EU durch Auslösung des Artikel 50: „Es ist viel gesagt worden, von dem allen klar sein musste, dass es nicht einzuhalten sein wird“, sagte der führende EU-Gegner Liam Fox.

EU-Kommissar tritt zurück. Die EU drängt hingegen auf einen raschen Verhandlungsbeginn. Umso dringlicher wird es für Fox' Lager sein, zumindest symbolische Akte zu setzen. Keineswegs ist gesichert, dass sich Premier David Cameron bis Oktober im Amt halten kann, wie er angekündigt hat. Erst am Samstag hat der für Finanzen zuständige britische EU-Kommissar, Jonathan Hill, seinen Rücktritt angekündigt. Unter einer neuen Führung könnten dann Schritte folgen wie ein Gesetz, das britisches Recht über europäisches stellt, oder eine Aufkündigung der Niederlassungsfreiheit von Ausländern, meinen Beobachter. Das irische Außenministerium veröffentlichte wegen der großen Zahl an Anfragen einen Leitfaden zum Erwerb der Staatsbürgerschaft. Andere nahmen es mit Humor. Julia aus London twitterte: „Akzeptiere Heiratsanträge. Biete deutsch-britische Staatsbürgerschaft.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.06.2016)

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