Schottland will das Votum der Briten für einen EU-Austritt nicht akzeptieren. Zugleich schlittert nach den Konservativen auch Labour in eine Führungskrise. Brexit-Proponent Fox rechnet mit Austritt 2019.
London. Der Austritt Großbritanniens aus der EU war offenbar nur der erste Akt in einem Drama, das zur Tragödie zu werden droht. Die schottische Regierungschefin, Nicola Sturgeon, stellte gestern, Sonntag, in einer Serie von Interviews klar: „Großbritannien wird zutiefst schädigende und schmerzhafte Folgen des Austritts aus der EU erleiden. Meine Aufgabe ist es, Schottland davor zu schützen.“ Sie stellt sogar ein Veto des schottischen Parlaments gegen den Brexit-Beschluss in Aussicht, was jedoch umgehend in Zweifel gezogen wurde: „Edinburgh hat dazu kein Recht“, sagte der Verfassungsrechtler Adam Tomkins.
„United Kingdom besteht nicht mehr“
Ein zweites Unabhängigkeitsreferendum sieht Sturgeon aber nicht nur „auf dem Tisch“, sondern „moralisch“ berechtigter denn je: „Die Umstände haben sich dramatisch verändert. Jenes Vereinigte Königreich, für das sich Schottland 2014 aussprach, besteht nicht mehr.“ Sie werde nicht zulassen, dass Schottland, das in allen Wahlkreisen für den EU-Verbleib gestimmt hat, „gegen unseren Willen aus der Union gerissen wird“. Das Kabinett in Edinburgh beschloss daher, Direktgespräche mit Brüssel aufzunehmen.
Unterstützung erhielt die schottische Regierungschefin durch eine Umfrage mit einer Mehrheit von 52:48 für die Unabhängigkeit. Dennoch hat der Brexit den Weg dorthin nicht einfacher gemacht. Es gibt keine Verfassungsgarantie für die Abhaltung einer zweiten Volksabstimmung. Sturgeon warnte aber: „Unter den gegebenen Umständen halte ich es für völlig inakzeptabel, dass irgendjemand uns vorschreibt, wie wir unser Land voranbringen wollen. Ich würde jedem künftigen Premierminister dringend davon abraten.“
Davon ist in London, der politischen Machtzentrale des Landes, derzeit freilich weit und breit keine Spur. Völlig unklar ist dieser Tage, wer eigentlich regiert. Premierminister David Cameron ist de facto bereits Lame Duck. Zugleich sind die Brexit-Führer Boris Johnson und Michael Gove auf Tauchstation. Innerhalb der Tory Party haben die ersten Grabenkämpfe bereits heftig begonnen. Wer wann neuer britischer Premier wird, ist auch von Bedeutung, um die Austrittsverhandlungen des Landes zu beginnen und zu führen. Ex-Verteidigungsminister und Brexit-Proponent Liam Fox nannte den 1. Jänner 2019 als möglichen Scheidungstermin.
Doch nicht nur die regierenden Konservativen sind führungslos, auch in der oppositionellen Labour Party brach gestern eine Revolte gegen Parteiführer Jeremy Corbyn aus. Die Rebellen geben ihm wegen seines lustlosen EU-Engagements Mitverantwortung für den Brexit. Bis zum späten Sonntagnachmittag hat Corbyn acht der 31 Mitglieder seines Schattenkabinetts verloren.
Was auch mitspielt: Viele Labour-Abgeordnete fürchten, dass ein neuer Chef der Konservativen rasch Neuwahlen ausrufen und ihre Partei vernichtend schlagen würde. „Er ist ein anständiger Mann, aber kein Parteiführer“, sagte der bisherige außenpolitische Sprecher, Hilary Benn, über Corbyn. Dennoch lehnte dieser seinen Rücktritt mit dem Hinweis ab, dass er vom Parteivolk und nicht von der rebellischen Parlamentsfraktion gewählt worden sei. Ein für morgen geplanter Misstrauensantrag sei „bedeutungslos“, sagte seine Verbündete Dianne Abbott.
Führungskrise in beiden Großparteien
Angesichts der Lage in den beiden führenden Parteien sprach Sturgeon von „absolutem Chaos“ und „unverzeihlicher Verantwortungslosigkeit“. Auch in der EU-Kommission verlor das Land mit dem Rücktritt von Finanzmarkt-Kommissar Jonathan Hill seine Stimme: „Was geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden“, sagte er.
Erstmals nach dem Referendum treten am Montag Regierung und Parlament zusammen. Davor sprechen die Märkte. Im Vorfeld gab es wegen der anhaltenden Unsicherheit bereits deutliche Hinweise auf neuerliche massive Kursverluste. Von den „glorreichen Gelegenheiten“, mit denen Johnson in seiner Siegesrede am Freitag geprahlt hat, ist derzeit ebenso wenig zu sehen wie von ihm selbst.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2016)