Als die rechtlichen Grundlagen für den Austritt eines Staates aus der EU 2007 entstanden, dachte man an eines nicht: an ein Ausscheiden Großbritanniens
Oktober 2018. Das ist der frühestmögliche Zeitpunkt, zu dem der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Gemeinschaft über die Bühne gegangen sein kann. Premier David Cameron erklärte vergangenen Freitag – kurz nach Bekanntwerden des Brexit-Ergebnisses – zweierlei: Erstens, er werde mit Oktober 2016 zurücktreten. Zweitens, er werde bis dahin nicht selbst den Europäischen Rat offiziell darüber informieren, dass sein Land aus der EU austreten wird. Doch genau dieser Schritt ist ein wichtiger, denn erst mit dieser formalen Erklärung Großbritanniens beginnt die Zweijahresfrist zu laufen. Dieser Zeitraum ist im Artikel 50 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) vorgesehen. „Eine sehr kurze Zeit“, sagt Stephan Denk, Wirtschaftsrechtsexperte und Freshfields-Partner. „Klar ist, es wird eine außerordentliche Herausforderung sein, innerhalb von nur zwei Jahren die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich auf eine taugliche Basis zu stellen.“
Zwei Jahre sind zu kurz
Als diese Austrittsregelung 2007 mit dem Vertrag von Lissabon geschaffen wurde, dachte nämlich kein Mitgliedstaat ernsthaft daran, dass sie schon zehn Jahre später schlagend werden könnte. Und nicht einmal die größten Pessimisten wären auf die Idee gekommen, dass diese schwammige Bestimmung ihre Feuertaufe ausgerechnet mit der zweitgrößten Volkswirtschaft der EU erleben werde. Eher dachte man an kleineren, wirtschaftlich maroden Staaten. Da hätte es Sinn, schnell Tabula rasa zu machen und klare Verhältnisse zu schaffen. Doch derzeit sieht es so aus, als hätte es die EU eiliger, mit den Verhandlungen zu beginnen als die Briten, die für den Ausstieg gestimmt haben. „Verständlich, dass sich Cameron Zeit lässt“, sagt Denk. „Die Briten müssen noch viel mehr Hausübungen als die EU machen. Mit dem Wegfall der EU-Mitgliedstaaten fallen alle Freihandelsabkommen sowie alle bilateralen Abkommen zwischen der EU und Drittstaaten mit einem Schlag weg. Das heißt, die Briten müssen immerhin 60 Abkommen auf neue Beine stellen.“
Das Land wird aber mit noch mehr juristischen Problemen zu kämpfen haben. Etwa mit der Beantwortung der Frage, was im britischen Rechtsbestand alles auf EU-Recht beruht. „Die Juristen müssen also das gesamte Rechtsportfolio durchleuchten, um herauszufinden, was durch direkt anwendbare EU-Verordnungen geregelt, was aufgrund von EU-Richtlinien innerstaatlich umgesetzt wurde und welche Entwicklungen die Folge von Entscheidungen der Europäischen Gerichtshöfe sind“, sagt der Finanz- und Bankrechtsexperte Florian Klimscha. Eine Aufgabe, die in einem Land, in dem es nur sehr wenig kodifiziertes Recht, sondern Case Law gibt, viel schwieriger ist als in einer kontinentaleuropäischen Rechtsordnung.
Doch welche Regelungen gelten, wenn die bisherigen Bestimmungen – wie etwa die Basel-III-Mindestkapitalregeln für Banken – es nicht mehr tun? „Die alten nicht, weil die ja schon außer Kraft getreten sind“, sagt Denk. Deshalb sei die wahrscheinlichste Variante, dass das britische Parlament einen sogenannten EU Continuity Act beschließen wird, um trotzdem weiterhin rechtliche Kontinuität für Unternehmen, Banken und Investoren zu gewährleisten. Eine Lösung, die Brexit-Anhängern widerstreben wird, wollen sie doch mit den EU-Regularien künftig nichts mehr zu tun haben.
Aber es gibt auch noch andere Gründe, weshalb auch sie derzeit fest auf der Bremse stehen: „Artikel 50 gibt der EU im Vergleich zu Großbritannien klar die stärkere Verhandlungsposition“, sagt Klimscha. Denn nach zwei Jahren ist mit den Verhandlungen Schluss. Es sei denn, alle Mitgliedstaaten sprechen sich einstimmig für eine Verlängerung aus. Und wenn sie das nicht tun? „Dann kommt es zu einem sogenannten Dirty Exit. Die Mitgliedschaft der Briten erlischt abrupt – mit allen Rechten und Pflichten.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.06.2016)