Dem Brexit folgt der Exodus

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Jede fünfte britische Firma denkt über eine Verlagerung ins Ausland nach. Banken setzen erste Schritte. Die verkleinerte EU könnte davon profitieren.

Wien. Kaum haben die Briten für den EU-Austritt gestimmt, haben sie es damit gar nicht mehr eilig – nicht einmal die Anführer der erfolgreichen Leave-Kampagne. Doch dass die Regierung die offizielle Ankündigung bis zum Herbst hinauszögern will, macht die Situation für die Wirtschaft nur noch schlimmer. Die Nebel werden sich erst lichten, wenn wieder klar ist, unter welchen Bedingungen Großbritannien mit der EU und dem Rest der Welt Handel treiben kann. Es geht um Zölle, Marktzugang, Regulierung und Arbeitsmarkt. Mindestens zwei Jahre dauern die Verhandlungen über den Ausstieg, weitere fünf Jahren dürften neue Freihandelsabkommen brauchen. Für viele Firmen ist das eine viel zu lange Phase der Unsicherheit. Sie müssen rascher handeln.

Nach einer aktuellen Umfrage des Firmenchefnetzwerks Institute of Directors (IoD) denken 22 Prozent der Mitglieder über eine Verlagerung von Geschäften ins Ausland nach. Fast ein Viertel will vorerst keine neuen Arbeitskräfte einstellen. Besonders stark betroffen sind ausländische Firmen, die die Insel bisher als Sprungbrett für Europa genutzt haben: US-Banken, asiatische Autobauer, Internet-Start-ups. Sie müssen ihr lokales Geschäftsmodell überdenken. Und das heißt wohl für viele: Exodus über den Kanal.

In London zittern deshalb viele Banker um ihren Job. Nach Schätzungen könnten 100.000 Arbeitsplätze oder zehn Prozent vom gesamten britischen Finanzsektor wegfallen. Das Zauberwort hieß bisher: Passport. Aber diese Erlaubnis, mit Kunden auf dem Kontinent problemlos Geschäfte zu machen, dürfte eingeschränkt werden. Das sei eben der Preis dafür, der EU den Rücken zu kehren, betont Euro-Gruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem. Auch der Schweiz, die durch viele Abkommen eng mit der Union verbunden ist, fehlt als Nichtmitglied das Pass-Privileg.

Asiens Autobauer in der Falle

Frankfurt, Dublin, Paris und Mailand könnten von einer Verlagerung profitieren. Eine Frankfurter Standortinitiative hofft auf 10.000 neue Jobs vor Ort. Viele US-Banken wie JP Morgan, Citi und Goldman Sachs haben schon europäische Büros außerhalb des Königreichs. Dennoch können sie Aktivitäten nicht so einfach verlagern. Sie brauchen nationale Lizenzen von Regulatoren, die schon in normalen Zeiten bis zu einem Jahr Vorlaufzeit haben. Um diese Berechtigungen stellen sie sich nun eilig an.

Sorgen machen sich auch asiatische Konzerne, die massiv in Großbritannien investiert haben. Zu den großen Kursverlierern zählen japanische und indische Autobauer: Nissan, Toyota und Tata (Jaguar Landrover) betreiben große Werke auf der Insel – und beliefern von dort aus ganz Europa. Zwar erhöht ein geschwächtes Pfund ihre Exportchancen. Aber das hilft ihnen nicht viel, sobald sie die Gewinne heimholen und dabei Kursverluste erleiden. Zu fürchten haben sie zudem geringere Inlandsumsätze, wenn die britische Wirtschaft stagniert oder gar in eine Rezession rutscht. Das größte Damoklesschwert aber sind Zölle, die Brüssel nach einer schmutzigen Scheidung auferlegen könnte. Das ließe sich durch das Norwegen-Modell vermeiden. Der Haken dabei: Als Mitglied des europäischen Wirtschaftsraums musste das skandinavische Land die EU-Gesetzgebung übernehmen, ohne sie selbst mitentscheiden zu können. Das gilt auch für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Diese Hürde dürfte für das Brexit-Lager politisch kaum zu nehmen sein. Denn die Leave-Kampagne hatte sich die weitverbreiteten Aversionen gegenüber EU-Ausländern, vor allem aus Osteuropa, zunutze gemacht – und damit wohl das Referendum entschieden.

Talente aus ganz Europa anheuern zu können ist einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren für Start-ups. Für sie galt London bisher als hoch attraktives Drehkreuz. Aber der Glanz verblasst nun rasch. Viele Firmen in der Startphase, die laufend frisches Kapital brauchen, müssen befürchten, die nächsten Monate nicht zu überleben – weil in der aktuellen Phase großer Unsicherheit die Risikoinvestoren kein Geld lockermachen. So mancher Gründer ist auf dem Sprung.

Vor einer ungewissen Zukunft stehen auch die EU-Arbeitsmigranten – vor allem jene, die noch kein Anrecht auf die britische Staatsbürgerschaft haben. Ein Viertel der 850.000 ausgewanderten Polen denkt über eine Rückkehr in die Heimat nach. Damit würde Großbritannien viele fähige Handwerker und dringend benötigte Krankenschwestern verlieren. Und für Polen selbst wäre ein solcher Ansturm auf den Arbeitsmarkt zumindest kurzfristig nur schwer zu verkraften.

Unsicherheit bremst auch Spanien aus

Wozu ungeklärte politische Verhältnisse wirtschaftlich führen, bekommt auch Spanien zu spüren. Das Resultat des zweiten Wahlgangs am Sonntag hat die Regierungsbildung nicht einfacher gemacht. Gut möglich, dass die Spanier noch ein drittes Mal zu den Urnen gerufen werden. Die Volkswirte der Großbank BBVA berechnen die Kosten der Unsicherheit: Mit 0,5 Prozentpunkten weniger Wachstum über 2016 und 2017 sind sie im Februar gestartet, vorige Woche lagen sie schon bei knapp einem Prozent des BIPs. Raufen sich die beiden Großparteien nicht bald zusammen, dürfte die nächste Prognose deutlich höher ausfallen. Auch hier zeigt sich: Eine unsichere politische Zukunft ist Gift für den so lang erhofften Aufschwung.

AUF EINEN BLICK

Der EU-Austritt Großbritanniens bereitet der Wirtschaft vor Ort Kopfzerbrechen. US-Banken, die den Finanzplatz bisher als Sprungbrett nach Europa genutzt haben, planen Verlagerungen. Denn sie benötigen einen EU-Pass, um auf dem Kontinent Kunden betreuen zu können. Japanische Autobauer und chinesische Investoren, die stark auf der Insel engagiert sind, zeigen sich beunruhigt. Für Start-ups hat London deutlich an Attraktivität eingebüßt. Von diesen Entwicklungen könnten Standorte in der verkleinerten EU profitieren. Auch ein Viertel der in Großbritannien lebenden Polen denkt daran, in die Heimat zurückzukehren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.06.2016)

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