Brexit Szenario I: Der Neubeginn

Kommissionpräsident Jean-Claude Juncker mit dem Noch-Premierminister des Vereinigten Königreichs, David Cameron.
Kommissionpräsident Jean-Claude Juncker mit dem Noch-Premierminister des Vereinigten Königreichs, David Cameron.(c) REUTERS
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Zwischen Großbritannien und der EU gibt es ein gütliches Einvernehmen, die Union reformiert sich, der Populismus wird zurückgedrängt.

Wie wird es nach dem Brexit weitergehen mit der EU?
Mit einem Zerfall der EU?
Oder doch eher mit einem Neubeginn:

Es gibt ein Leben nach dem Brexit. Der Schock, den die Briten mit ihrer Entscheidung zum Austritt aus der Europäischen Union den restlichen 27 Mitgliedstaaten versetzt haben, kann rasch abklingen – und konstruktiv genutzt werden. Dass Krisen zu Chancen umgedeutet werden, gehört seit dem Ausbruch der Finanzkrise in Europa zum Tagesgeschäft. Bis dato beschränkte man sich allerdings darauf, europapolitischen Existenzfragen auszuweichen und aufs Prinzip des Durchwurschtelns zu setzen. Der EU-Austritt Großbritanniens ist aber eine Nummer zu groß für diesen Lösungsansatz. Diesmal muss die EU die Weichen neu stellen.

Die Sterne stehen günstig

Mit dem Rücken zur Wand gehen die Entscheidungsträger in Brüssel und den EU-Hauptstädten die Probleme frontal an. Sie haben Glück, denn die wirtschaftliche und politische Sternenkonstellation ist diesmal richtig. Auf den Finanzmärkten laufen keine großen Wetten gegen den Euro, in Spanien bilden Mitte-links und Mitte-rechts eine stabile Koalition, und Premier Matteo Renzi gewinnt im Herbst sein Referendum zur Reform des italienischen Parlaments.

Wichtigstes Element ist ein gütliches Einvernehmen mit den Briten. David Camerons Nachfolger in der Downing Street 10 sieht ein, dass es den Zugang zum Binnenmarkt nicht ohne Personenfreizügigkeit gibt – und kann dies auch den Wählern verständlich machen. Die sich abzeichnende Rezession samt Kürzungen im Sozialbudget sorgt dafür, dass die protektionistische Euphorie der Briten rasch verfliegt. Durch enge Anbindung an den Binnenmarkt nach dem Vorbild Norwegens kann London den gröbsten Schaden für die britische Wirtschaft abwenden – und Schottland im Vereinigten Königreich halten. In der EU selbst bewirkt der Abschied von Großbritannien die Entstehung eines neuen Dreiergespanns Deutschland-Frankreich-Italien – allesamt Mitglieder der Eurozone und fest dazu entschlossen, die kriselnde Währungsunion ein für alle Mal hieb- und stichfest zu machen.

Um den kleineren Mitgliedstaaten die Angst vor einem Direktorium der großen drei zu nehmen, wird das Prinzip eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten etabliert – was zugleich den Populisten auf dem Kontinent den Wind aus den Segeln nimmt, denn nun kann jeder Mitgliedstaat entscheiden, wie viel Europa er verträgt. Und ein Blick über den Ärmelkanal, ins gestrauchelte Großbritannien, zerstreut restliche Zweifel am Sinn der EU. Die Union ist zwar kleiner geworden, doch sie hat die größte Krise in ihrer Geschichte gemeistert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2016)

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