Das britische Referendum leitet den Zerfall Großbritanniens ein, bringt Marine Le Pen an die Macht – und zerstört langfristig die EU.
Wie wird es nach dem Brexit weitergehen mit der EU?Mit einem Neubeginn der EU? Oder doch eher mit dem Zerfall:
Der Brexit als Anfang vom Ende. Wer nach dem Ergebnis des britischen Referendums gedacht hat, die Schockwellen des Austritts aus der EU werden verebben, ohne größeren Schaden anzurichten, wird eines Besseren belehrt. Wovor im Vorfeld nur Experten gewarnt haben – dass auf den Prinzipien des gemeinsamen Binnenmarkts das Gebäude der europäischen Integration basiert –, wird der breiten Öffentlichkeit schmerzhaft bewusst.
Den Anfang machen dabei die Briten selbst. Nachdem klar geworden ist, dass die siegreichen Befürworter des EU-Austritts erstens keinen Plan für dessen Umsetzung haben und zweitens ihren Wähler das Blaue vom Himmel versprochen haben, brechen die regierenden Tories unter dem Gewicht ihrer inneren Widersprüche zusammen. Ähnlich ergeht es der Labour Party, die mit internen Grabenkämpfen zu beschäftigt ist, um sich um die Sorgen der Wähler zu kümmern. In dieses Vakuum stoßen zwei Personen vor: Nigel Farage von der Rechts-außenPartei UKIP, der den Briten – diesmal mit einiger Berechtigung – weismachen kann, sie seien von den Eliten in Westminster verraten und verkauft worden; sowie die schottische Regierungschefin, Nicola Sturgeon, die das Chaos in London nutzt, um Schottland aus dem Vereinigten Königreich zu führen.
Die Wirren bleiben nicht nur auf Großbritannien beschränkt. Nachdem das Machtvakuum jenseits des Ärmelkanals die EU dazu gezwungen hat, den Countdown für den Brexit unilateral einzuleiten, bricht ein Streit über den künftigen Kurs der EU los. Während Frankreich und Italien dazu drängen, die Eurozone zu einer Sozialunion (auf Kosten der deutschen Steuerzahler) umzubauen, kündigen Griechenland, Portugal und Spanien das, wie sie formulieren, „ungerechte Spardiktat“ der Brüsseler Erbsenzähler auf, während die Osteuropäer ihre Grenzen dicht machen, um sich vor etwaigen Flüchtlingsströmen zu schützen.
Heroischer Abwehrkampf Bundeskanzlerin Angela Merkel, Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionschef Jean-Claude Juncker versuchen zwar heroisch, die Brände zu löschen, doch der Sieg von Marine Le Pen bei der französischen Präsidentenwahl im Frühjahr 2017 ist ein Schock zu viel. Die Chefin des Front National gibt der EU die Schuld am Chaos und verspricht, Frankreich aus der Europäischen Union zu führen. Assistiert wird ihr dabei vom neuen niederländischen Premier, Geert Wilders, der ebenfalls einen Nexit ankündigt. Der „patriotische Frühling der Völker“, den Le Pen im Jahr davor angekündigt hat, kann nun beginnen.
Es ist doch ein wenig erstaunlich. Der Premierminister wollte es nicht, die Schotten wollten es nicht, die EU-Spitze wollte es nicht, die Regierungschefs der 27 anderen EU-Staaten, der US-Präsident, der Papst und die Anglikanische Kirche wollten es nicht - den Brexit, den Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus der EU. Und nun könnten bald ausschließlich Remain-Anhänger über den Austritt verhandeln, sofern dieser einmal förmlich angekündigt wird. Denn nur ein wesentlicher Spieler der britischen Innenpolitik aus dem Brexit-Lager hat die Chance, bald tatsächlich mitreden zu können. Ein Überblick über die handelnden Personen. Text: Klemens Patek APA/AFP/BEN STANSALL Er war immer für einen Verbleib Großbritanniens in der EU. Er hielt dem Druck des Brexit-Lagers in seiner Partei nicht stand, verknüpfte sein eigenes Schicksal mit jenem der Briten in der EU. Auch die Verhandlungen über Sonderrechte der Briten mit der EU im Falle eines "Remains" im Vorfeld der Abstimmung halfen nichts. Die Debatte wurde emotional geführt, für Fakten war da kein Platz. "Wir verlassen die EU, aber wir drehen ihr nicht den Rücken zu." Cameron kann nun nur noch versuchen, die Panik in Bahnen der Konstruktivität zu lenken. Eine echte Entscheidung ist von ihm nicht mehr zu erwarten. Es wird wohl erst der nächste Premierminister den Austritt aus der EU erklären. Die Hoffnung des Premiers, dass er sich erst im Oktober zurückzieht und die emotional aufgeladene Brexit-Debatte bei seinen konservativen Tories beruhigt und gemäßigtere Kräfte das Ruder übernehmen können, hat sich jedenfalls nicht erfüllt. Cameron wollte so verhindern, dass etwa der Londoner Ex-Bürgermeister Boris Johnson als Galionsfigur der Brexit-Befürworter neuer Parteichef und Premier wird. (c) APA/AFP/PHILIPPE HUGUEN (PHILIPPE HUGUEN) Boris Johnson, streibarer Ex-Bürgermeister von London, will vor allem eines - dachte man noch vor kurzem: Premierminister Großbritanniens und Chef der Tories, der Konservativen werden. Dann das Brexit-Votum und dann die große Überrachung: Johnson tritt nicht als Parteichef an. Die Partei ist tief gespalten. Johnson ist durch seine exaltierte Art umstritten, er polarisiert nicht nur seine Partei. Die Briten sollen nach Meinung Johnsons auch weiterhin die Vorteile der EU nutzen können. Auch er sagt, es bestehe "keine große Eile" für das Königreich, den EU-Austritt zu erklären. Es wird weiterhin freien Handel und Zugang zum Binnenmarkt geben", schrieb Johnson in seiner Kolumne für den "Telegraph". Die in Großbritannien lebenden EU-Bürger werden ihre Rechte in vollem Umfang geschützt sehen, versicherte er. Daran wird er auch gemessen werden. Mögliche Verhandlungen zwischen Johnson und der EU wären jedenfalls kompliziert. (c) APA/AFP/BEN STANSALL (BEN STANSALL) Der Kampf für den Austritt seines Landes aus der EU ist für Nigel Farage eine Lebensaufgabe. Seit 1999 sitzt er im EU-Parlament, und prangert die aus seiner Sicht "korrupten" und antidemokratischen" EU-Institutionen an. Ziel erreicht, nun will er "sein Leben zurück" - Farage legt seine UKIP-Chefposition zurück, will aber noch im EU-Parlament bleiben. Er wäre ohnehin nicht in die Verlegenheit kommen, tatsächlich eine Entscheidung zu fällen. Denn den Austritt aus der EU muss die Regierung beantragen, an der Farages UKIP nicht beteiligt ist. Bei den Unterhaus-Wahlen spielte die Partei bisher kaum eine Rolle. Sollte es tatsächlich zu einem Austritt der Briten aus der EU kommen, ist die UKIP (United Kingdom Independence Party) allerings auch ihr großes Thema los. Man müsste auf nationale Themen umsatteln - und das große Zugpferd Farage gibt es dann auch nicht mehr in der Partei. (c) APA/AFP/JOHN THYS (JOHN THYS) Die Frage, ob Großbritannien in der EU bleiben soll, hat die Konservativen tief gespalten. In der Gunst der Tory-Wähler liegt einer YouGov-Umfrage vom Dienstag zufolge Innenministerin Theresa May vorn. Sie war gegen den Brexit. Auch Gesundheitsminister Jeremy Hunt zieht eine Bewerbung "ernsthaft in Betracht". Er war es auch, der ein mögliches zweites Referendum ernsthaft ins Spiel brachte. Eine zweite Volksabstimmung könnte stattfinden, wenn Großbritannien eine Übereinkunft mit der EU über die Kontrolle der Zuwanderung schließe, sagte Hunt dem "Daily Telegraph" am Montag. Auch Arbeitsminister und Stephen Crabb könnte seinen Hut in den Ring werfen. Der EU-Befürworter werde dazu bei Parlamentsmitgliedern seiner konservativen Partei um Unterstützung für sich und Handelsminister Sajid Javid werben, berichtete Sky News unter Berufung auf Insider am Montag. Und da wäre dann natürlich noch Boris Johnson, der einzige ernsthafte Kandidat, der die Tories in eine gänzlich andere Richtung steuern würde. Er wäre der einzige mögliche Cameron-Nachfolger als Premier, der den Brexit vor dem Referendum unterstützt hatte. Zu allererst will Jeremy Corbyn, Chef der oppositionellen Labour-Party, seinen Job behalten. Zu Amtsantritt im Herbst 2015 wurde er noch als linker Vordenker gefeiert, doch sein Zögern in der Brexit-Debatte brachte ihm parteiintern heftige Kritik ein - vor allem, nachdem klar war, dass die Briten für den Austritt gestimmt hatten. Er stemmt sich gegen eine Revolte in der Parteielite. Einflussreiche Mitglieder des von ihm selbst aufgestellten Schattenkabinetts wollen ihn nun stürzen. Corbyn selbst hat angekündigt, nicht zurücktreten zu wollen, und im Falle einer Neuwahl des Parteichefs wieder zu kandidieren. Er genießt breite Unterstützung an der Parteibasis, die ihn auch ins Amt gewählt hat. In der Fraktion dagegen hat Corbyn wenig Verbündete. Er hat derzeit keinen direkten Einfluss auf die Entscheidung der Regierung in der Brexit-Frage - ähnlich wie der politisch am gänzlich anderen Spektrum angesiedelte Nigel Farage. (c) REUTERS (NEIL HALL) Ihr große Traum, die Unabhängigkeit Schottlands von Großbritannien, ist im Vorjahr geplatzt - vorerst. Denn 55 Prozent der Wähler des schottischen Referendums wollten damals nicht. Dank des Brexit-Referndums hat die schottische Regierungschefin wieder eine Chance. Denn Schottland hat Pro-EU gewählt. Sturgeon ist nach dem Brexit-Votum der Briten entschlossen, Schottlands Platz in der EU zu verteidigen. Sie wird am Mittwoch nach Brüssel reisen und dort Gespräche mit den Spitzen des EU-Parlaments führen. Sie hatte zuletzt Vorbereitungen für ein zweites Referendum über Schottlands Unabhängigkeit angekündigt. Denn es gilt, den Brexit-Zorn der Schotten über den Rest des Vereinigten Königreichs für ihre Unabhängigkeits-Bestrebungen zu nutzen. (c) APA/AFP/OLI SCARFF (OLI SCARFF) Was soll der mächtigste EU-Politiker (oder -Beamte, je nach Sichtweise) anderes wollen, als die Briten in der EU zu halten. Doch die EU-Spitze zeigte sich zuletzt vor allem eher beleidigt. "Die Briten wollen raus aus der EU, dementsprechend sollte man handeln", sagte Juncker vor dem EU-Parlament. Statt den Austritt offiziell zu erklären, betrieben Cameron und seine Konservativen nun aber ein "Katz-und-Maus-Spiel". Wenn auch nicht heute oder morgen, müsse die Austrittserklärung doch "schnell" erfolgen. Oberste Priorität hat nun der Zusammenhalt der verbliebenen 27 EU-Staaten. Daher gilt für Juncker und auch Ratspräsident Donald Tusk: "Europa ist bereit, den Scheidungsprozess sogar heute zu beginnen", sagte Tusk. Er räumte aber ein, dass die EU auf einen Austrittsantrag des Vereinigten Königreichs warten muss. Ein Brexit soll kein Spaziergang für die Briten werden. Juncker hat Nigel Farage Lügen vorgeworfen. Bei der Sondersitzung des EU-Parlaments zu den Brexit-Folgen sagte Juncker unter Hinweis auf Budgetaussagen von Farage, "Sie haben gelogen." Man dürfe eine "Nation nicht den Nationalisten überlassen." (c) REUTERS (FRANCOIS LENOIR) Die deutsche Bundeskanzlerin gibt auch in dieser Krise den Ruhepol. Schnellschüsse von Merkel gibt es nicht. Sie will die Briten nicht unbedingt rasch aus der EU ekeln, aber auch keine Verhandlungen starten, ehe das Vereinigte Königreich nicht explizit gesagt hat: "Ja, wir wollen austreten", also den berühmten Absatz 50 der Vertrages von Lissabon aktivieren. Merkel bemüht sich jedenfalls um einen angemessenen Tonfall gegenüber den Briten. Großbritannien bleibe "weiter Freund und Partner, obwohl wir die Entscheidung alle sehr bedauern", heißt es etwa. Ihr großes Ziel: einen weiteren Zerfall der Union verhindern. Die deutsche Regierung werde sicherstellen, dass es in den Trennungsverhandlungen nicht nach dem "Prinzip der Rosinenpickerei" für Großbritannien zugehen werde, sagte Merkel vor dem deutschen Bundestag. (c) REUTERS (FABRIZIO BENSCH) Das Nein der Briten zur EU könnte Bestrebungen in anderen Mitgliedstaaten stärken, denselben Weg einzuschlagen. Die Rechtsparteien mit nationalistischer Grundhaltung in ganz Europa frohlocken ob des Brexit-Ergebnisses. Egal ob Heinz-Christian Strache der österreichischen FPÖ, Marine Le Pen des französischen Front National oder auch der Niederländer Geert Wilders und seine Partei "Die Freiheit": Sie alle wollen ein EU-Referendum in ihren Ländern durchboxen - teils sind derartige Referenden aber politisch gar nicht vorgesehen. Andere Länder diskutieren Referenden über die Flüchtlingspolitik der EU (Ungarn oder Polen etwa). (c) APA/AFP/VLADIMIR SIMICEK (VLADIMIR SIMICEK) Für US-Präsident Barack Obama ist ein Brexit ein kleines Übel. Schließlich pflegen die USA seit jeher ein enges direktes Verhältnis zu Großbritannien. Obama warnte ausdrücklich vor einer "Hysterie". Die Entscheidung der Briten bedeute eher, dass im Projekt der vollen europäischen Integration der "Pausenknopf gedrückt" worden sei. Die Entscheidung der Briten sei eine Reaktion auf eine rasch wachsende EU. Dieser Prozess geschehe womöglich zu schnell und ohne den erforderlichen Konsens, sagte er dem Radiosender NPR. Am Tag nach dem Brexit-Votum hatte Obama die EU und Großbritannien als "unerlässliche Partner" bezeichnet. Kommt es zum Brexit, ist die EU an internationalen Verhandlungen jedenfalls geschwächt. Die Briten müssten in internationalen Krisen teils extra an den Verhandlungstisch geladen werden, was die Koordination erschwert. Doch inhaltlich sind Großbritannien und die USA außenpolitisch ohnehin meist einer Meinung. (c) APA/AFP/MANDEL NGAN (MANDEL NGAN) ("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2016)
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