Der frühere britische Europa-Staatssekretär unter Tony Blair, Denis MacShane, sieht die Verantwortung für den Brexit bei David Cameron, fordert aber auch die EU zum Umdenken auf.
Die Presse: Was bedeutet die Entscheidung Großbritanniens für den Brexit?
Denis McShane: Es ist die schwerste Krise der EU seit ihrer Gründung.
Was muss die Union jetzt machen?
Die gesamte Politik muss sich ändern. Wir brauchen Wachstum und Chancen. Es ist Tatsache, dass es zu viele Menschen gibt, die sich als Opfer der Globalisierung sehen. Die EU ist gut für die Reichen und Hochqualifizierten, aber wenn man ein einfacher Arbeiter ist, hat man keine Perspektiven. Das Brexit-Votum ist die Rache der betrogenen Arbeiterklasse Englands.
Und diese Rache wurde an den Ausländern genommen?
Es ist immer ein Spiel der Schuldzuweisungen, und Neuankömmlinge sind immer ein beliebter Sündenbock. Populismus ist sehr einfach. Es ist dasselbe, was Donald Trump in den USA macht. Es ist dasselbe, was wir in den 1930er-Jahren in Europa gesehen haben. Aber wir müssen auch zugeben, dass die Parolen der Populisten auf fruchtbaren Boden fallen, weil nicht genug getan wurde, den Menschen ein Gefühl der Sicherheit und Anteil an der Zukunft ihres Landes zu geben.
Besteht nun die Gefahr eines Dominoeffekts in Europa?
Ich würde sogar wetten, dass eine EU-Volksabstimmung in Frankreich heute dasselbe Ergebnis wie in Großbritannien bringen würde. Jedes Referendum über Europa hat in den vergangenen 20 Jahren ein Votum gegen Europa gebracht: Frankreich, Dänemark, Irland, Niederlande. Der Populismus grassiert, wir müssen endlich die Konsequenzen ziehen.
Was sind die Folgen des Referendums für Großbritannien?
Es besteht eine schwere politische Krise. Jetzt werden wir eine Brexit-Regierung bekommen. Wir werden sehen, ob sie Gesetze einbringt, die die Freiheit des Personenverkehrs aufheben. Das ist, was die Menschen wollen. Es besteht großer Druck, dass unser Parlament einseitige Schritte gegen EU-Bestimmungen setzt. Das wird aber unsere Verhandlungen mit der Union erschweren.
Stehen Beschlüsse wie die Einschränkung der Personenfreiheit unmittelbar bevor?
Die Debatte darüber hat schon begonnen. Aber wenn die wirtschaftlichen Folgen des Brexit wegen Instabilität und Unsicherheit zu einer Rezession führen, wird sich Wut im Volk breitmachen.
Ist Boris Johnson der nächste britische Premierminister?
Das bleibt abzuwarten. Es gibt viele andere ehrgeizige Politiker in der konservativen Partei, und Johnson ist unter den Abgeordneten nicht beliebt. Klar ist: Cameron hat die größte Niederlage und Demütigung erlitten, die ein Premierminister jemals zu Friedenszeiten einstecken musste, seine Autorität ist vollkommen weg. (gar)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2016)